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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Bernhard nimmt sich vor, an diesem Abend alles daranzusetzen, dass Marie und Wilhelm sich nicht streiten wie sonst immer, nachdem die Freude über das Wiedersehen zwischen Bruder und Schwester verebbt ist und die Diskussion aufs Politische kommt. Und weiß zugleich, dass er es wohl nicht wird verhindern können. Er selbst hat ja auch seine Mühen damit, dass Marie im Westteil der Stadt wohnt und jedes Mal aufs Neue erklärt, dass es ihr lieber ist, nicht in der Esbezett zu leben.
    Marie bindet sich, sobald sie den Mantel abgelegt hat, eine Schürze um und zeigt auf eine ihrer gefüllten Taschen. »Ich hab uns einen Braten gemacht, und dazu wird es Semmelknödel geben«, sagt sie. »Keine Widerrede, jetzt bestimme ich.«
    Ja, das kennt Bernhard noch aus der Zeit, als Tante Marie bei ihnen lebte, nachdem die Mutter fort war. Tot, verbessert er sich in Gedanken. Nachdem die Mutter tot war. Oder fort, fügt er dann doch noch einmal hinzu. Ein ganz anderer Ton war da eingezogen in ihren stillen Haushalt, energisch und herzlich. Als Junge hatte er oft rebelliert gegen die Ersatzmutter, doch letzten Endes hat Marie sie alle gerettet. Den Vater, Charlotte und ihn.
    »Mehl und Eier sind auch in der Tasche«, sagt Marie, »ich brauche eine Schüssel und ein bisschen Milch, wenn ihr habt.«
    Karla öffnet den Kühlschrank. »Wo denkst du hin, Milch ist doch immer da. Schon wegen dem Kind.«
    »Des Kindes«, murmelt Bernhard und grinst. Soll Karla heute reden, wie sie will. Es ist Weihnachten.
    Karla holt vom Haken am Küchenschrank eine funkelnagelneue Dederonschürze und hält sie Marie hin. »DeDeRon«, skandiert sie, »DeDeRon, Marie, pflegeleicht und hübsch dazu.«
    Marie schürzt sich nun nicht mit der mitgebrachten, sondern mit der Dederonschürze, Karla zuliebe, und geht an die Arbeit. Kurz darauf steht Charlotte in der Tür, auch sie möchte bei den Vorbereitungen zum Festmahl helfen. Bernhard lässt die Frauen in der Küche allein und spielt im Wohnzimmer mit Luise.
    Charlotte gerät ins Schwärmen über ihre Arbeitsstelle, ist sie doch frischgebackene Leiterin einer Kaufhalle für Waren des täglichen Bedarfs geworden. Und es gibt auch erst drei Stück, wie Charlotte erzählt, von diesen wunderbaren Einrichtungen, die den Frauen das Leben erleichtern und moderne Einkaufskultur verkörpern. Über derartigen Eifer muss sogar Marie lächeln. Was gibt es da zu diskutieren, das kennt sie von ihrem Bruder Wilhelm. Diese Entschlossenheit, ein Bild so lange schönzumalen, bis es nichts Störendes mehr zu sehen gibt. Doch als Charlotte insistiert, dass der Sozialismus dem Kapitalismus auch in solchen Alltagsdingen mehr und mehr überlegen sei, wird es Marie zu viel, und sie erwähnt, nur um abzulenken, dass sie kürzlich Elsa getroffen habe. Viel zu spät kriegt sie mit, wie es Karla das Lächeln von den Lippen wischt.
    »Was habt ihr nur immer mit Elsa«, entfährt es Karla, und gleich möchte sie es zurücknehmen, das sieht man ihr an. Aber Marie will wissen, warum sie es leid ist. Manchmal könne sie halt die ganzen alten Geschichten nicht mehr hören, winkt Karla ab. Elsa sei nun mal aus dem Leben von Bernhard verschwunden, und eine Freundschaft sei nur lebendig, wenn man sichregelmäßig sehe und das eine und andere im Alltag teile. Aber davon könne ja nicht die Rede sein bei den beiden.
    Charlotte wischt schon seit drei Minuten, solange dieser kleine Disput dauert, den Küchentisch ab. Sie denkt an den Sommerabend, als sie zufällig am Institut vorbeigelaufen ist und gesehen hat, wie Bernhard und Elsa das Gebäude verließen. Die Uhrzeit schien ihr ungewöhnlich, lange nach Dienstschluss muss es gewesen sein. Sie fragt sich, warum Karla von diesem Treffen nichts weiß und ob es nicht ihr gutes Recht wäre, es zu erfahren. Und ihre, Charlottes, Pflicht demnach, es ihr mitzuteilen.
    Luise ist eingeschlafen, und Bernhard hat sie ins Bettchen getragen. Als er noch einmal an der Küche vorbeikommt, hört er den Namen Martha und bleibt stehen. Bleibt hinter der Tür stehen und lauscht, wie er es zuletzt als kleiner Junge getan hat.
    »Ich weiß nicht, ob Bernhard damit einverstanden sein wird«, hört er Karlas sanfte Stimme, dann Charlottes strenge, die widerspricht.
    »Es sind jetzt zwanzig Jahre. Wir haben lange genug gewartet. Er muss endlich der Wahrheit … Vater ist auch der Ansicht. Und du ebenfalls, nicht, Marie?«
    Es vergeht eine Weile, bevor Marie antwortet. »Wilhelm möchte, dass sie endlich ein Grab bekommt.

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