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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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mir. Und manchmal habe ich Angst, unsere Freundschaft könnte durch den Abend in deinem Institut in die Brüche gehen. Wenn diese Gefahr besteht, lass uns lieber den einen Abend vergessen und uns an all die Jahre erinnern, die wir uns kennen und vertraut sind.
    Manchmal wünschte ich, aus dem Institut könnte wieder ein Kaufhaus werden. Und wir beide könnten da drin sein und alles wäre noch einmal so, wie es mal war. Das geht nicht, ich weiß. Ich träume nur, Bernhard. Träumst du auch hin und wieder? Ich umarme dich. Deine Elsa.«
    Bernhard steckt den Brief zurück in die Hosentasche. Ein kurzer Brief nach den vielen langen Elsabriefen, die er im Laufe der Jahre gesammelt hat und die alle fest verschnürt in seiner Kiste im Keller liegen. Der erste Elsabrief ohne Geschichten aus ihrem Leben und ohne eine ihrer Zeichnungen, über die er so oft schmunzeln musste. Ihm ist kalt und ein bisschen elend auch, als er sich auf den Weg nach Hause macht.
    Und dann beschließt er, einen kleinen Abstecher zu machen, um noch ein wenig zu träumen.

Unergründliches Obdach für Reisende
    Blätter, eine ganze Wand voller Ranken und Blätter. Dunkle Kreuze und helle Vierecke, zarte Muster, die sich als Blumen entpuppen, Stuhlbeine, um einen Tisch gruppiert. Augenblick für Augenblick tauchen sie auf in ihrem Westberliner Badezimmer, in der Schüssel mit Entwicklerbad: Tapeten, Fensterrahmen, Gardinen, Tische und Stühle aus der anderen Stadt, dem anderen Land, der anderen Welt. Aus der Wilhelm-Pieck-Straße 1. Seinem Institut. Ihrem Jonass.
    Schwarz, weiß und grau sind die Bilder aus dem Beratungsraum, und doch sieht sie alles farbig vor sich: auf grünem Teppichboden eine mahagonifarbene Schrankwand, darin bemalte Matrioschkapuppen, braune Keramik aus Bulgarien, ein Kupferteller aus Ungarn, ein handgewebter Tischläufer aus Polen – Gastgeschenke von Nutzern des Instituts aus befreundeten sozialistischen Ländern. Gerahmte Fotografien von Ulbricht neben einem Ölschinken, auf dem Lenin den Bauern die Revolution erklärt. Hinten in der Ecke ein Tisch, darauf eine Schreibmaschine für die Sekretärin, die die Sitzungen protokolliert.
    So kommt es ans Licht auf den Fotografien, die sie noch tropfend aus der Wanne gezogen hat, und so kommt es zur Sprache in dem Brief, den Bernhard ihr zum Geburtstag hat herüberschmuggeln lassen. Und als sie schon gedacht hat, dass es kein schöneres Geburtstagsgeschenk für sie geben könnte als einen Brief, einen Brief von Bernhard, einen Brief von Bernhard über ihr Haus, war bald darauf eine Filmdose bei ihr eingetrudelt.Eine kleine schwarze Dose voller unermesslicher Schätze. Nun konnte sie die Dinge und ihre Beschreibungen, das Puzzle der Bilder und Wörter, Stück für Stück zusammensetzen.

    Genauer, hat Elsa Bernhard gebeten, sollst du es beschreiben, jedes Detail und jede Ecke. Auch das, was dir unwichtig erscheint, was du nicht mehr siehst, weil du es jeden Tag sehen kannst. Alles will ich wissen. Das ist ihr Wunsch an ihn zum vierzigsten Geburtstag gewesen, seinem und ihrem Geburtstag: Beschreib mir unser Haus, Bernhard. Unser Haus, das ich nicht mehr sehen darf. Von unten bis oben, von außen und innen, im Großen und im Kleinen, alles, ich will alles wissen. Damit ich es wieder sehen kann, wenn ich daran denke. Nicht nur das Kaufhaus von damals, die Kleiderständer mit den langen Mänteln, zwischen denen wir uns unsichtbar machten, die Aufzüge, die uns von Stockwerk zu Stockwerk trugen, um unsere Königreiche in Augenschein zu nehmen, das Herzogtum des Porzellans, das Kalifat der Teppiche, später das Haus, das beinahe unversehrt aus den Trümmern ringsum ragte, mit den roten Bannern der Sieger behängt. Ich will wissen, wie das Haus jetzt ist, Bernhard, was aus ihm geworden ist, wie es sich entwickelt. Wie eine entfernte Verwandte komme ich mir vor, die eingefrorenen Erinnerungen nachhängt. Eine Verwandte, die man entfernt hat.
    Tatsächlich hat Bernhard ihr zum Geburtstag den gewünschten Brief herüberschmuggeln lassen, mit knappen Glückwünschen und einer ausführlichen Beschreibung vom Haus der Einheit, in dem er täglich ein und aus geht, für sie unerreichbar hinter Mauer und Stacheldraht. Auch das Briefpapier war zu ihrer Freude aus dem Institut. Der blaue Briefkopf besagt: Institut für Marxismus-Leninismus, beim Zentralkomitee der SED, Träger des Karl-Marx-Ordens, und rechts steht: Wilhelm-Pieck-Straße1, Berlin, 1054, Fernruf 202, Betriebsnummer 100 00 2019.
    Was es

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