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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Einen Stein. Neben Arno. Und neben ihm selbst, wenn es einmal so weit sein wird.«
    Später, als Marie mit Bernhard im Wohnzimmer den Kaffeetisch deckt, nimmt sie ihn zur Seite und nestelt an der Tasche ihrer Strickjacke. »Ich habe einen Brief für dich«, sagt sie und hält ihm das Kuvert entgegen. »Von Elsa.«
    Es ist das erste Mal, dass Elsa diese Schmuggelroute von West- nach Ostberlin gewählt hat. Er versucht mit aller Macht, die aufsteigende Röte aufzuhalten und möglichst beiläufig zu klingen. »Ach ja, danke.«
    Einen Augenblick lang schaut Marie ihn an, als ob sie erwarte,dass er den Brief in ihrer Gegenwart öffnen würde. Doch den Gefallen tut er ihr nicht, sondern schlendert mit dem Kuvert in der Hand aus dem Raum und hofft, nicht geradewegs in Karla hineinzulaufen. Den Brief wird er wohl erst lesen können, wenn die ganze Feierei vorbei ist. Oder auf dem Klo. Aber das will er nicht. Es kommt ihm schäbig vor, Elsas Zeilen heimlich eine halbe Treppe tiefer zu lesen, in Gestank und Eiseskälte. Er steckt den zusammengefalteten Brief in die Hosentasche, achtet darauf, dass nichts Weißes hervorlugt. Und hofft, dass auch in seinem Gesicht nichts zu lesen ist, wenn Karla ins Wohnzimmer kommt.
    Beim Kaffee reden alle gleichzeitig, so viel gibt es zu erzählen. Nur Wilhelm schweigt meist und versucht hin und wieder, dem ganzen Schwatzen eine Struktur zu geben, wie er sagt. Das bringt die Frauen in Hochform, die meinen, es müsse auszuhalten sein, wenn hier alle durcheinanderreden, und er könne ja versuchen, sie mit einem Likör zum Schweigen zu bringen. Doch der Likör bringt die Frauen keineswegs zum Schweigen, stellt Wilhelm nach dem zweiten Gläschen fest, und kündigt an, nach unten zu gehen, um eine zu rauchen.
    »Nimmst du Luise mit?«, fragt Karla und zwinkert ihm zu. »Ihr wolltet doch nachsehen, ob der Weihnachtsmann schon auf dem Weg ist.«
    Auch Marie möchte mit, und so ziehen sie erst das Kind warm an und schlüpfen dann selbst in die Mäntel. Bernhard ist besorgt, ob es für Luise gut sein wird, in die feuchte Kälte zu gehen, wo sie doch Fieber hat. Karla legt nur für ihn noch einmal die Hand auf die Stirn des Kindes und verkündet, dass sie kühl und trocken ist.
    »Wahrscheinlich war das wirklich nur die Aufregung«, sagt sie und gibt ihm einen Kuss auf die Stirn. »Falten raus.«
    Ein feiner Nieselregen stäubt vom Himmel, Wilhelm und Marie schlagen den Weg durch die Seitenstraßen ein, so lassensich alte Erinnerungen hervorholen. Luise darf auf Wilhelms Schulter sitzen und hält Ausschau nach dem Weihnachtsmann. Zuerst gehen Wilhelm und die Schwester schweigend durch die Straßen, dann reden sie über Bernhard und darüber, wie toll sich der Junge macht. Als sei er kein erwachsener Mann, denkt Wilhelm, sondern noch immer ein halbwüchsiger Bengel, dem mal etwas richtig gut gelungen ist. Marie will wissen, ob der Junge immer noch so oft im Institut ist, und Wilhelm bejaht. »Da haben wir heute mal reingeschaut, ins Jonass«, sagt er und lächelt bei dieser Erinnerung. »Man erkennt innen nichts wieder, aber es ist immer noch ein prächtiges Haus.«
    Marie wird aufgeschreckt, als das Mädchen auf Wilhelms Schultern plötzlich ruft und mit den Armen rudert, weil doch tatsächlich ein Weihnachtsmann vor ihren Augen über die Straße stiefelt. Und der winkt dem aufgeregten Kind auch noch zu.
    »Na, dann können wir ja nach Hause gehen«, sagt Wilhelm. »Und den anderen erzählen, dass der Weihnachtsmann unterwegs ist.«
    »Vielleicht war er schon bei uns«, baut Marie vor für den Fall, dass die Geschenke schon unter dem Baum liegen, wenn sie nach Hause kommen. Auf dem Rückweg begegnet ihnen nur ein einziges Auto, ein Trabant, wie es ihn erst seit Kurzem gibt. Aber für wen der zu haben ist, das hat Wilhelm noch nicht herausgefunden.
    Zu Hause liegen die Päckchen tatsächlich schon unter dem Baum. Karla hat sich große Mühe gegeben, selbst das kleinste Geschenk prachtvoll zu verpacken, sodass es aussieht, als seien sie hier bei reichen Leuten. Luise staunt und staunt und kann gar nicht aufhören, die kleinen Hände zusammenzuschlagen wie eine Alte. Karla besteht darauf, dass man zuerst noch ein Weihnachtslied singt, und stimmt ›Stille Nacht‹ an. Wilhelm und Bernhard brummen mehr schlecht als recht mit und haben keine Chance gegen Maries klaren Alt und Karlas Sopran, derjeden Ton trifft. Luise begnügt sich damit, den Rhythmus falsch mit den Händen zu schlagen, und Charlotte zieht

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