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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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ihr heute helfen sollte, zu diesem Anlass, Bernhards Brief bei sich zu tragen, kann sie nicht sagen. Sie hat ihn in der Handtasche verschwinden lassen, kurz bevor sie sich auf den Weg zum Gericht gemacht hat. Nun verlassen Stephen und sie nebeneinander das Gerichtsgebäude. Es ging alles ganz schnell. Am Ende der Stufen angekommen, drücken sie sich einen Kuss auf die Wangen und gehen ihrer Wege. Bis zur nächsten Ecke. Vor der roten Ampel wendet Elsa noch einmal den Kopf. Nein, festhalten kann sie ihn nicht, will sie ihn nicht, ihren Mann, nur diesen letzten Blick auf seinen kleiner werdenden Rücken. Sie zieht die Kamera aus der Tasche, knipst, steckt sie wieder ein. Im selben Moment dreht er sich um und blickt in ihre Richtung. Da stehen sie nun, können nicht vor und nicht zurück. Wenn ich jetzt auf ihn zugehe, denkt Elsa, und er wendet mir genau in der Sekunde den Rücken und geht? Nein, ich bin viel zu oft auf ihn zugegangen in all den Jahren. Sie zieht eine Zigarette aus der Tasche und zündet sie an. Stephen hebt den Arm und winkt ihr zu, sie hebt den Arm und winkt zurück. So stehen sie einander gegenüber und winken, als würden nicht zwanzig Meter Bürgersteig sie trennen, sondern ein unsichtbarer Graben oder der Mauerstreifen. Oder der Atlantik, den Stephen vor zwei Tagen überquert hat, um sich nach Jahren der Trennung von ihr scheiden zu lassen. Stephen winkt und winkt, schwenkt den Arm, als stehe er an der Reling eines auslaufenden Schiffes. Fehlt nur das Taschentuch, denkt Elsa, lässt den Arm sinken und bricht in Lachen aus. Da hält auch Stephen endlich inne, grinst so breit, dass sie seine Zähne aufblitzen sieht, und setzt sich in Bewegung. In der Mitte treffen sie sich und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern. »Du hast recht«, sagt Elsa, obwohl Stephen kein Wort gesagt hat, »das müssen wir feiern.«Es ist spät geworden, und kann schon sein, dass sie ein bisschen beschwipst ist, aber in so einer Sommernacht, da muss man zu Fuß nach Hause gehen. Gehen und nachdenken. Schließlich wird man nicht jeden Tag geschieden. Stephens Angebot, sie nach Hause zu begleiten, hat sie abgelehnt. Immerhin läuft sie Tag und Nacht allein durch die Straßen, seit er nach New Jersey zurückgekehrt ist und bei der Gelegenheit gleich noch Werner mitgenommen hat, der sich seine Begeisterung für die Yankees aus den Tagen der Shmoos und Candys bewahrt hatte und nun als Techniker bei Stephens Sender arbeitet. Nein, sie wollte lieber alleine gehen. Es wäre seltsam gewesen, am Ende des Weges mit ihm vor dem Haus zu stehen, in dem sie so viele Jahre gemeinsam gelebt haben. Um dann was zu sagen? Darf ich dich noch auf einen Kaffee einladen?
    Elsa lehnt sich für einen Augenblick an eine Hauswand. Die Steine sind noch immer warm. Ja, ein strahlender Julitag ist das heute gewesen, ihr Scheidungstag, ganz im Gegensatz zu ihrer Hochzeit vor zwanzig Jahren im Mai. Ununterbrochen hatte es gegossen, in der Nacht vor der Hochzeit, auf dem Weg zur Kirche, während der Trauung und danach. Auf den Kirchenstufen warf eine Windböe unter dem aufgespannten Schirm hindurch Schauer in ihre Gesichter. Stephen versuchte, ihr die verlaufene Wimperntusche von den Wangen zu küssen, und machte alles nur schlimmer. Sie hatte ihn weggeschoben, war in den Gemeindesaal zur Damentoilette gerannt und hatte sich übergeben. Der dritte Monat war der schlimmste, auch wenn man zum Glück noch nichts sah unter dem Brautkleid.
    »Und ob ihr’s glaubt oder nicht«, sagt Elsa zu den Wärme spendenden Häuserwänden, während sich ein Schluckauf den Weg nach oben bahnt, »das war einer der schönsten Tage meines Lebens.«
    Sie läuft weiter durch die stillen Straßen, versunken in Erinnerungen, die ab und an vom Schluckauf durchkreuzt werden.War es falsch, so früh zu heiraten und gleich zu dritt anzufangen? Sie hat es nie bereut und kann es auch heute nicht bereuen, mit der als gescheitert gestempelten Ehe in der Tasche. Über das Hereinplatzen der kleinen Stephanie in ihr Leben hatten Stephen und sie sich damals gefreut. Selbst Vicky, die auf der Hochzeit noch »gute Miene zum bösen Spiel« gemacht hatte, konnte dem Charme von »little Steph« nicht lange widerstehen. Und es war Vickys Idee gewesen, drei Jahre später den kleinen Bruder nach dem Haus zu nennen: Jonas. Als er davon zum ersten Mal erfuhr, war Jonas gekränkt. »Ich bin nach Daddy benannt«, hatte ihm seine Schwester, den Mund voll Cornflakes, beim Frühstück verkündet, »und

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