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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Fotografien von apokalyptischer Bannkraft die ersten Seiten der Zeitung füllte. Merkwürdigerweise wurde zwar erwähnt, daß sich unter jenen Personen, die im Bildhaueratelier ihr Ende gefunden hatten, auch die von der Presse als Glasbaronin bezeichnete Birgitta Hafner befand, doch mit keinem Wort darauf verwiesen, daß es sich um dieselbe deutsche Industriechefin handelte, deren Tochter entführt worden und schließlich in einem Kellerloch im vierten Bezirk verhungert war. Dennoch: Es war Wedekind nicht länger vergönnt, die Entführung der Sarah Hafner von sich wegzudenken, aus dem Kreis herauszudenken, in den Grisebach ihn hineingezogen hatte, und zwar auf Anordnung Hufelands – das stand für Wedekind nun fest. Es ergab sich für ihn ein undurchschaubares Gespinst, aber ein Gespinst eben, das nach seiner Überzeugung keinen Zufällen und unglücklichen Fügungen zu verdanken war. Ein Gespinst, in dem er selbst sich verhangen hatte, unscheinbar, mag sein, wenig mehr als ein fliegendes Insekt oder eine Fußnote. Aber unscheinbar genug? Es gab nun einmal diese Affären, die mit der allergrößten Sorgfalt zu einem Nichts pulverisiert wurden, wo selbst noch das kleinste Flankerl in den Sack wanderte. Wer sich eine derartige Mühe gegeben hatte, die großen Köpfe aus dem Weg zu räumen, würde wohl kaum die geringe Mühe scheuen, den geringsten aller Mitwisser vom Platz zu fegen. Und wenn Wedekind bisher all den Ereignissen erstaunlich ruhig begegnet war, vielleicht auch, da er nicht mehr als einen weiteren Gefängnisaufenthalt befürchtet hatte, so erfaßte ihn nun eine Panik, die sich seiner mit ausdauerndem Griff bemächtigte. Er wurde zum Gejagten, nicht ahnend, daß er sich selbst jagte, daß ihn sein Schicksal nicht einholen, er vielmehr in selbiges hineinrennen würde wie in einen Mähdrescher.
    An diesem Tag, da die Hitze sich wie ein überbreiter Hintern auf der Stadt niedergelassen hatte, so daß die berechtigte Angst umging, das könnte bereits der Sommer gewesen sein, bewegte sich Wedekind am Kärntner Ring entlang. Während er nächtens rattengleich in den dunklen Winkeln der Stadt verschwand, versuchte er den Tag über inmitten der Menge zu überleben. Doch als er nun vor dem Hotel Imperial zu stehen kam, begriff er, daß er den um die Ecke des nächsten Gebäudes liegenden Schwarzenbergplatz nicht mehr erreichen würde, daß seine Flucht hier zu Ende war. Er fühlte es. Er wußte es. Punkt. – Man kann auch sagen, daß Wedekind den Verstand verloren hatte und ein spitzbübischer Anwalt seines angegriffenen Geistes diesen Verlust auf dramatische Weise anzeigen wollte.
    In jedem Fall stand er vor einer unsichtbaren Mauer, die wie alles Unsichtbare jedem Angriff widerstanden hatte. Zurückzugehen war ebenso unmöglich, denn Wedekind hatte den Begriff der Flucht so eng gesehen, daß er in all den Wochen sich kein einziges Mal umgewandt hatte, keine Straße wieder zurückgegangen war. Es lag jetzt zwei Monate zurück, daß er in eisiger Kälte eben auf jenem Schwarzenbergplatz gestanden hatte und aus einer von Schreckensmeldungen aufgeblähten Zeitung vom Tod Hufelands, Wieses und Hafners erfahren hatte. Und noch am Schwarzenbergplatz, der in gewisser Weise den ins Zentrum vorgerückten Eingangsbereich des Zentralfriedhofes darstellt, hatte er sich zur Flucht entschlossen. Seine vier Hunderln hatte er einer verdutzten, aber nicht unwilligen älteren Dame anvertraut, die nur kurz in Nachdenklichkeit verharrt war, dann jedoch das Unergründliche, aber keineswegs Abartige der Situation angenommen und die vier ebenso willigen Tiere hinüber zur Karlskirche geführt hatte. Wedekind aber war den Rennweg hinaufmarschiert, die lange Startbahn seiner Reise. Wobei er wie selbstverständlich innerhalb der Stadtgrenzen blieb. Sich aus Wien hinauszustehlen, war eine Unart, die sich Wirtschaftsverbrecher erlaubten, aber kein Mensch, dem noch ein bißchen Anstand die Knochen zusammenhielt.
    Er erreichte die Ränder im Osten und Norden, durchquerte jenen Wiener Haupttümpel, den man Lobau nennt, und gelangte nach Neu-Eßling genauso wie nach Stammersdorf. Wedekind lief durch Gassen, die offiziell gar nicht existierten und die vergessene Namen wie Hendlkramerweg trugen. Oder aber sie stellten geringe Bruchteile von bekannten Straßen dar, zum Beispiel existierte ein kurzes Stück namens Ein-Zwanzigstel-Währingerstraße, weitab der eigentlichen Währingerstraße. Er sah Wohnsiedlungen, die er im Abendlicht und aus der

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