Tote essen kein Fast Food
fühlte sich mein Leben an, als hätte es jemand mittendrin in zwei Teile gebrochen: in bevor Britta ging und danach. Mamas und Papas Trennung war einfach das Letzte. Der Kummer und die Wut darüber nagten an mir wie ein Schmerz, der sich nur durch Gewebe zersetzendes Cortison in Schach halten ließ und schon chronisch geworden war. Ebenso chronisch wie die Trennungsorgie in meiner Klasse. Bei den Eltern wohlgemerkt, nicht den Schülern. Meinem halben Jahrgang war mittlerweile die eine Hälfte seiner Erziehungsberechtigten abhandengekommen, in einem Fall durch Herzinfarkt, beim Rest durch Beziehungsinfarkt. Super.
Okay, meine eigene Beziehungsbiografie war auch nicht gerade eine Erfolgsgeschichte. Die letzte Pleite lag gerade erst ein paar Wochen zurück und hieß Aaron. Aaron, der Gitarrenfreak, dessen Herz mehr für Heavy Metal schlug als für mich. „Krieg erst mal raus, was du wirklich willst“, hatte ich zu ihm gesagt, bevor ich mitten in seinem letzten Auftritt aus der Aula geflohen war. Er hatte es wohl rausgekriegt, denn seitdem hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Nur gesehen: „Happy Single“, stand unter „Beziehungsstatus“ auf seiner Facebookseite. Aaron, der happy Arsch.
Im Gegensatz zu ihm war Martin wohl nicht happy als Single. Die Sache mit seiner nagelneuen Svea, die für ihn ja wohl gar nicht so nagelneu war, hatte mich kalt erwischt, auch wenn ich versucht hatte, sie so kaltschnäuzig wie möglich zu parieren. Die ganze Zeit über hatte ich die coole Socke gespielt, die mit allem klarkommt und mit Galgenhumor (so heißt mein Cortison) über alles weggeht. Aber jetzt hatte meine pseudo-toughe „That’s life – macht mir doch alles nichts aus“-Fassade offensichtlich einen Knacks wegbekommen. Oder gleich mehrere. Fühlte sich an wie der Grand Canyon, der langsam volllief. Erst kribbelte es in der Nase, auf die Lippen beißen half nichts, und dann standen meine Augen schon unter Wasser. Die Tränen rollten mir die Wangen herunter, eine nach der anderen, und wollten gar nicht wieder aufhören. Die ersten fünf versuchte ich noch einzufangen, aber dann ließ ich sie laufen. Jans Shirt wurde ganznass, denn wir standen so wenigstens fünf Minuten eng umschlungen in der Nachmittagssonne, bis sich die Flutwelle aus meinen Augen allmählich in einen Schluckauf verwandelte. „Hey“, sagte Jan und stupste meine Stirn mit der Nase an, „hör auf damit.“ Ich blickte zu ihm auf und mit dem Zeigefinger strich er mir über den Abdruck eines Knopfes von seinem Sweatshirt, der sich auf meiner geröteten Wange abzeichnete. „Mit Schluckauf kann man nicht küssen.“
„Hicks“, sagte ich.
Dann bewies ich ihm das Gegenteil. Ich schloss die Augen und dachte an nichts mehr. Als ich sie nach einer gefühlten Ewigkeit wieder aufmachte, waren die Dämme in mir total aufgeweicht und schrien nach Sandsäcken. Aber keine Chance. Mindestens einer hatte ein dickes, fettes Loch. Und mein Schluckauf war ganz weg. (Ehrlich, das ist die beste Methode gegen Schluckauf, die ich je ausprobiert habe. Unbedingt zu empfehlen. Kann man bloß nicht bei jedem machen. ☺ )
Wir nahmen den langen Fußweg zurück durch die Heidelandschaft, an der Jugendherberge vorbei, über die Sand- und Bohlenwege bis dort, wo die Häuser von List anfangen. Wir gingen Hand in Hand und sprachen nicht viel. Trotzdem kam mir der Weg so kurz vor wie noch nie, und von mir aus hätten wir ewig so weitergehen können. An die mysteriöse Person, die wir bei dem unterirdischen Eingang zur Flakstellung gesehen hatten, verschwendete ich keinen Gedanken. Ich war hier oben. Mit Jan. Und alles war neu. Und aufregend. Und … einfach nur gut.
„Hallo, ihr zwei, wisst ihr, wo Frida steckt?“, empfing uns Martin am Holztor zum Garten. „Es ist schon nach sieben.“
„Ehm, nein, keine Ahnung“, erwiderte ich und wollte mich unauffällig mit Jan an ihm vorbeidrücken. „Jan kennst du ja schon.“
„Hallo, Jan“, sagte Martin. „Ich habe mich noch gar nicht bedankt für die Rettungsaktion in den Dünen neulich. Vielen Dank für deine Hilfe. Und ich bin übrigens Martin.“ Hoppla. Diese Form von Lockerheit kannte ich gar nicht an meinem Vater. Sollte er die Lage etwa sofort gepeilt haben?
„Kein Problem“, sagte Jan und grinste leicht verlegen. „Man muss ein bisschen aufpassen auf Fanny.“
„Diese Erfahrung habe ich auch schon gemacht“, erwiderte Martin, und mir war gerade nicht sehr klar, worauf sich das bezog.
„Mist!“ Svea
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