Tote essen kein Fast Food
irgendeinen Mist gucken darf, während meine Klassenkameraden bis morgens um vier den Hamburger Kiez unsicher machen. Heute zum Beispiel.
Im Prinzip könnte ich auch bei Oma in Blankenese übernachten, aber da muss ich spätestens um eins zu Hause sein. Andere Uhrzeiten hält sie nicht aus, sagt sie, und außerdem sei das sowieso grober Unfug bei Sechzehnjährigen. Insbesondere solchen, die nur 1,58 Meter und fünf Millimeter klein sind und dabei noch nicht mal fünfzig Kilo auf die Waage bringen. So wie ich. Wo bitte ist da die Logik? Als obmeine Körpergröße was damit zu tun hätte, wie lange ich abends weggehen kann. Ein Uhr!! Dann kann ich’s auch gleich ganz lassen.
Von Martins Zweieinhalb-Zoll-Bildschirm grinst mich Markus Lanz an, dieser perfekte Schwiegersohn. Und draußen pisst es wie blöd, Verzeihung: Es regnet Bindfäden. Mama kann es nicht ausstehen, wenn ich diese „Prollwörter“ benutze. Es pisst aber trotzdem. So wie vor drei Monaten, als das alles anfing. Dazu heult der Wind jetzt um die Ecken und reißt die Herbstblätter von den Bäumen, die sich wie gelborange nasse Lappen auf alles draufkleben, was noch vom Sommer draußen rumsteht. Der ideale Zeitpunkt also, um mit meiner Geschichte anzufangen …
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Es war Anfang Juli. Wir hatten vier Wochen Dauerregen hinter uns und Martin war drauf und dran, seinen neuen Job im Museum aufzugeben und mit mir in die Wüste zu ziehen. Bis ihm eine weniger aufwendige Alternative einfiel. Er sei reif für die Insel, verkündete er eines Abends in Hochstimmung, während ein Rinnsal aus seinem klitschnassen Regenmantel sich auf dem Dielenboden zur Pfütze mauserte. „Wir fahren nach Sylt.“
„Wann?“
„Übernächste Woche, wenn deine Ferien anfangen.“
„Das ist jetzt nicht dein Ernst.“
„Selbstverständlich ist das mein Ernst. Sylt ist meine Lieblingsinsel, das weißt du doch.“
„Aber nicht meine.“
„Wart’s ab. Das gibt sich noch.“ Und damit war die Sache entschieden. Für ihn jedenfalls.
Sylt. Ausgerechnet. Ich war auch reif für die Insel, aber nicht für diese. Gegen ein Eiland zweitausend Kilometer weiter südlich hätte ich ja nichts einzuwenden gehabt, aber Sylt, dieser sandige lange Haken in der Nordsee, der nur schlappe zweieinhalb Stunden von hier entfernt und damit wahrscheinlich auch gerade unter einer fetten Regenfront liegt – Sylt war komplett daneben. Schon deshalb, weil die betuchteren unter meinen Klassenkameraden, beziehungsweise ihre Erzeuger, dort eine Zweitwohnung haben oder ein Zweithaus. Oder einen Zweitortsteil. Was weiß ich. Jedenfalls waren das mit Abstand die Letzten, denen ich in den Ferien begegnen wollte mit ihren Hilfiger-Klamotten, ihren Hockeyschlägern und ihren Abercrombie & Fitch-Sweatshirts, die Papi von seinen Business-Trips in die Staaten gleich im Dutzend mitbringt. (Mein Vater hat mir nur mal so ein Hemd mitgebracht, wie es sich die Touris für ihre Nilfahrten aufschwatzen lassen. Aber Folklore kommt nicht so gut in meiner Klasse, noch nicht mal als Pyjama. Seit vorletztem Sommer trägt es Brittas Vogelscheuche zwischen den Erbsen auf.)
Früher war das alles anders auf Sylt, sagt Martin. „Wir sind dort richtig verwildert und so was wie Lifestyle gab’s noch nicht.“ Sylt ist die Insel seiner Kindheit, wo er zusammen mit seiner Schwester Christina die Ferien regelmäßig bei seiner Lieblingstante Hedi, meiner Ende Mai verstorbenen Großtante, verbrachte. In ihrem Häuschen in List am nördlichen Ende von Sylt, wo die Insel sich zum Haken krümmt. Später, als ich klein war, hat er keine Zeit mehr gehabt für Besuche auf Sylt. Ich war bisher nur zweimal da gewesen, und auch das nur übers Wochenende, von denen eines total nass und stürmisch war. Und natürlich bei der Trauerfeier für Tante Hedi, obwohl ich sie nicht wirklich gut gekannt hatte.
Dass Ferien auf Sylt gleichbedeutend mit großer Freiheit und draußen leben sein sollten, wie Martin mir weismachte, konnte ich, ehrlich gesagt, nicht nachvollziehen. Nachvollziehen kann ich bloß, dass von Sylt wahrscheinlich seine Vorliebe für die Wüste kommt, die sich von diesem nordfriesischen Sandhaufen nur durch den Mangel an Möwen und an Regentropfen unterscheidet. Und durch die Größe natürlich.
Heutzutage ist auf Sylt gerade mal die Luft gratis, und auch das nur hinter den Dünen. Der Sandstrand mitsamt der gesunden jodhaltigen Luft darüber kostet schon Eintritt, auch bei schlechtem Wetter. Kurtaxe nennen sie das, und sie
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