Tote essen kein Fast Food
Ablenkung so braucht.
Ich schlief oben in Tante Hedis Gästezimmer, mit einem goldgerahmten röhrenden Hirsch über meinem Bett und zwei Plakaten des Deutschen Instituts für Vogelforschung, die mich in Multicolor über aktuell bedrohte Arten sowie die Verbreitungsgebiete der Teichralle und der Pfuhlschnepfe in Norddeutschland und Skandinavien aufklärten. Vom Fenster aus hatte ich einen guten Blick auf die krüppelige Kiefer, die Tante Hedi zum Verhängnis geworden war. Eine leuchtend rote birnenförmige Gummiboje baumelte an einem der dicken unteren Äste. Genau in der richtigen Höhe, um mir und meinem Florett als Sparringspartner zu dienen. Was wohl Tante Hedi damit gemacht hatte. Geboxt?
Papa richtete sich bei den toten Vögeln unten auf dem Sofa ein. Es wäre ihm pietätlos erschienen, sich in Tante Hedis Bett zu legen, das in der oberen Etage im schönsten und größten Zimmer des Hauses stand. Die Sonne schien dortdurch die beiden weißen Sprossenfenster und zauberte Schattenmuster auf die helle Streifentapete von den Klematisranken, die bis unter den Dachfirst geklettert waren und sich im Wind vor dem Fenster wiegten. Ein großer Schreibtisch stand vor einem der Fenster, ein weißer Korbschaukelstuhl vor dem anderen. Die Bretter der Bücherregale bogen sich unter Nachschlagewerken, Reiseführern und ornithologischen Bildbänden. Den geringsten Raum im Zimmer nahm das Bett ein. Es war kleiner als meines zu Hause. Großtante Hedi war nicht verheiratet gewesen und hatte sich wohl schon in jungen Jahren mehr für die Vogel- als für die Männerwelt interessiert, wie ein Buch auf ihrem Nachttisch bewies, das man nur noch im Antiquariat oder beim Antiktrödler findet. Wenn überhaupt.
Daneben lehnte hinter der altmodischen Tütenlampe ein Stück windgebleichte Wurzel an der Wand, die aussah, als stamme sie eher aus einem südamerikanischen Mangrovenwald als vom Sylter Strand. Sie erinnerte an eine mitten im Angriff erstarrte Kobra und wollte nicht so richtig in die gemütliche Atmosphäre des Zimmers passen. Es sollte sich um eine Art Omen handeln für das, was kommen würde, aber das war mir zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht klar.
Wir krempelten die Ärmel hoch und machten uns an die Arbeit. Die ersten paar Tage auf Sylt verbrachten wir mit Aufräumen, Entrümpeln, Wegwerfen. Wir rissen alle Fenster auf, leerten die Aschenbecher, enteisten den Kühlschrank und versuchten, die undichte Stelle im Reet zu finden. Das Badezimmer allerdings brauchte ein Sofort-Lifting. Einheitlich nikotingelbe Wände plus nackte Glühbirne am frühenMorgen waren noch nicht mal bei Sonnenschein zu ertragen. Geschweige denn unter dem bleigrauen Himmel der ersten Tage. Wie war das? „Ein kurzer Schauer und dann scheint meist wieder die Sonne.“ Von wegen.
Martin strich die Wände in einem sonnigen Hellblau und ich lackierte die Holzpaneele darunter in Meister-Proper-Weiß. In einem Elektroladen trieben wir neben einem neuen Staubsauger eine Art Lüster auf, den wir in der Ecke neben dem Fenster so tief hängten, dass an Tag fünf unseres sogenannten Urlaubs die Morgensonne durch die herabhängenden Glasprismen winzige Regenbogen an die Wände warf. Sie fingen an zu tanzen, sobald der Wind mit den Prismen spielte. Oder der heiße Luftstrom aus meinem Föhn.
Ehrlich gesagt wunderte ich mich damals ein bisschen über Martins Aktionsdrang. Normalerweise ging er die Dinge nämlich lieber ruhig an. Was mich vollends hätte stutzig machen sollen, war sein Großeinkauf am Ende der ersten Woche. „Wer soll das denn alles essen? Du hast ja eingekauft wie für eine zweiwöchige Belagerung.“ Während einer Aufräumpause saß ich in Tante Hedis marodem Strandkorb im Garten und beobachtete, wie Martin stoisch einen Supermarktkarton nach dem anderen ins Haus trug. Als er damit fertig war, brühte er uns umständlich einen Kaffee in Tante Hedis Zwiebelmusterkanne und dem Porzellanfilter, der noch aus Vorkriegszeiten zu stammen schien. Mit zwei vollen Kaffeebechern und zwei Riesenstücken Käsekuchen auf einem Tablett kam er raus und ließ sich neben mir im Strandkorb nieder.
„Ich habe eine Überraschung für dich“, sagte er.
Hilfe. Martins Überraschungen hatten bisher meist damit zu tun gehabt, dass er für mehrere Monate nach Ägypten oder Mesopotamien oder in die Wüste des Tschad verschwand. Ich pikte die Spitze meines Käsekuchens auf meine Gabel und stopfte sie mir in den Mund, um nicht antworten zu müssen.
„Wir
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