Tote im Salonwagen
dreister!«
Aber natürlich war der neue Fahrgast kein dahergelaufener – es war Herr Grin persönlich, mit angeklebtem blondem Bärtchen und Brille.
»Das ist mein Freund«, beruhigte das schöne Fräulein den Kutscher. »Auf ihn hab ich gewartet. Wohin soll’s gehen, Grintschik?«
»Fahr erst mal den Teatralny lang. Dann sag ich, wohin.«
»Was liegt denn an?« fragte die sangesfreudige Schöne. »›Dringende Angelegenheit‹? … Ich hab natürlich alles stehen- und liegengelassen. Hokuspokus fidibus, schon bin ich hier und steh vor dir, dein braves Zauberpferdchen … Oder hattest du einfach bloß Sehnsucht nach mir?« Koketterie schwang in ihrer Stimme.
»Laß uns fahren, ich erklär’s dir später«, sagte der Zugestiegene, sichtlich nicht zum Schwatzen aufgelegt.
Also fuhren sie schweigend.
In der Pretschistenka, vor dem Palais des Fürsten Dobrinski verließen die Fahrgäste den Schlitten. Anstatt durch das Haupttor liefen sie zu einem Seitenflügel, der einen überdachten Eingang mit Treppchen hatte.
Fandorin, der ausgestiegen war, um das Geschirr zurichten, sah, wie eine junge Frau die Tür öffnete: blasses, strenges Gesicht, straff zurückgebundenes Haar.
Was der Staatsrat im folgenden anstellte, geschah zielstrebig und ohne das geringste Zögern. Wie nach einem klaren, sorgfältig ausgearbeiteten Plan.
Er fuhr das Fuhrwerk zur Seite, fünfzig Schritt vielleicht, band die Zügel an einen Poller, warf Joppe und Mütze in den Schlitten, schob den Degen unter den Sitz und lief zurück zum Gitterzaun. Hier wartete er ab, bis die ohnehin wenig belebte Straße einmal vollkommen leer war, erklomm geschickt das Gitter und sprang auf der anderen Seite hinunter.
Eilig überquerte er den Hof in Richtung Seitenflügel, auf ein Fenster zu, dessen Luke offenstand. Fandorin hielt einen Moment inne, um zu lauschen, dann kletterte er scheinbar mühelos auf den Fensterstock und schob sich seitwärts durch das schmale Oberfenster, was schon einem mittleren Kautschukakt gleichkam.
Drinnen war das Problem, geräuschlos auf den Fußboden hinunterzukommen, das der Eindringling ebenso meisterte. Er stand in einer gemütlichen, gut geheizten kleinen Küche. Fandorin spitzte die Ohren: Aus irgendwelchen hinteren Räumen erklangen Stimmen. Er ortete die Richtung, zog den Herstal-Bayard aus dem Achselholster und schlich hinaus auf den Korridor.
So kam es, daß Fandorin sich zum zweiten Mal an diesem Tag spähend und horchend hinter einer angelehnten Tür wiederfand. Diesmal aber ohne jede Irritation und Gewissensbisse, sondern voller Jagdeifer, im Vorgeschmack des Triumphes: War er doch dabei, seinem neuen Duzfreund Gleb heimzuleuchten– der konnte noch mehr von ihm lernen, als nur Farben zu raten.
In dem Zimmer waren drei Personen. Die Frau mit dem glatten Haar, die vorhin geöffnet hatte, saß halb mit dem Rücken zur Tür am Tisch. Ihr Tun war seltsam: Vor sich hatte sie ein Glas, aus dem sie mit einem Spatelchen eine graue, glibbrige Masse löffelte und winzige Portionen davon mit großer Vorsicht in eine schlanke kleine Büchse träufelte, wie man sie von Olivenessenz oder Tomatenpaste kannte. Auf dem Tisch standen noch andere Büchsen, gleiche und auch größere, von Halbkilokonserven. Sie baut Wurfgranaten! erriet Fandorin, und seine Freude trübte sich etwas. Den Herstal konnte er wieder wegstecken. Eine Verhaftung würde unter diesen Umständen schwerlich gelingen – es genügte, daß die Frau vor Schreck oder Überraschung ordentlich zusammenzuckte, und vom Haus blieben nur Trümmer.
An der Unterhaltung schien die Frau nicht beteiligt, es sprachen nur die beiden anderen.
»Du bist ja übergeschnappt!« sagte die eben angekommene junge Frau. »Vom ewigen Wühlen im Untergrund hat dich der Verfolgungswahn erwischt. So kennt man dich gar nicht! Wenn sogar ich jetzt schon verdächtigt werde …«
Ihre Fassungslosigkeit wirkte so echt und überzeugend, daß Fandorin der Frau sofort auf den Leim gegangen wäre, hätte er sie nicht gerade noch mit Posharski zusammen gesehen. Während man umgekehrt von dem dunkelhaarigen Mann mit den kantigen, unbewegten Gesichtszügen hätte annehmen können, daß er bei dem Treffen am Bahnhof dabeigewesen war, so viel unerschütterliche Gewißheit lag in seiner Stimme.
»Das ist keine Verdächtigung. Ich weiß es einfach. DieBriefe haben Sie mir zugespielt. Ich war mir nur nicht sicher, ob Tarnung oder Verrat. Nun weiß ich es. Zwei Fragen bleiben offen. Die eine ist:
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