Tote im Salonwagen
blickte hinter sich und sah ein paar unförmige dunkle Häuflein auf dem Boden liegen; die verwaisten Gäule streckten ihre Mäuler nach ihnen hin. Dahinter die leere Kutsche mit weit offenstehendem Schlag. Die Uhr über der Apotheke. Zwölf Minuten nach fünf.
Der ganze Überfall hatte demnach keine drei Minuten gedauert.
Die Herberge »Indija« befand sich an einem schmutzigen, trostlosen Platz gleich neben Prjany rynok, dem Gewürzmarkt. Es war ein langgestreckter eingeschossiger Bau – unansehnlich, doch mit gutem Pferdestall und eigenem Warendepot. Hier stiegen Kaufleute ab, die nach Moskau kamen, um Zimt, Vanille, Nelken und Kardamom zu erwerben. Im Umkreis des Marktes lagen schwindelerregende exotische Gerüche in der Luft, und wer die Augen schloß, so daß er die von Pferdepisse gelben Schneewehen und die windschiefen Vorstadthäuslein nicht sehen mußte, der konnte sich fürwahr in Indien wähnen:schwankende üppige Palmen, Elefanten im graziösen Wiegeschritt und der Himmel nicht weißlich grau wie der über Moskau, sondern so bodenlos tiefblau, wie es sich gehörte.
Joker hatte einmal mehr richtig kalkuliert. Als Grin das Hotel mit zwei Säcken betrat, sah keiner hin. Ein Mann, der ein paar Warenmuster mit sich herumschleppt – das kannte man zur Genüge. Da mußte erst einer draufkommen, daß es keine Gewürze waren, die der dunkelhaarige Kaufmannsgehilfe in den Säcken hatte, sondern zweihunderttausend Rubel in druckfrischen Scheinen. Während der wilden Fahrt durch die Nemezkaja hatte Grin die Siegeladler und Drahtplomben in das grobe Sackleinen versenkt.
Julie, die wirklich seltsam aussah in ihrem billigen Drap-dedame-Kleidchen und mit dem profanen Haarknoten, fiel ihm um den Hals, blies ihren heißen Atem in sein Gesicht.
»Gott sei dank, du lebst«, murmelte sie. »Ich war ja so aufgeregt, gezittert hab ich vor Aufregung … Da ist das Geld drin, ja? Alles gut gegangen? Und was ist mit den anderen? Sind sie heil? Wo ist Joker?«
Grin hatte Zeit gehabt, sich zu wappnen, und ertrug die vielen kitzelnden Liebkosungen ungerührt. Das ging also.
»Er steht draußen Wache. Jetzt bringen wir noch jeder zwei, das war’s dann.«
Als sie mit den übrigen vier Säcken zurückkehrten, wurde der Joker von Julie genauso stürmisch umhalst, und Grin war sich endgültig sicher, daß er aus dem Gröbsten heraus war. Nie wieder würde er sich so aus dem Gleichgewicht bringen lassen, sein Wille war stärker als jede Versuchung.
»Wollen Sie erst nachzählen?« fragte er. »Sonst suchen Sie sich einfach zwei aus. Vier schaffen wir zurück in den Schlitten, und ich verschwinde.«
»Nein, nein!« rief Julie, gab ihrem Liebhaber einen weiteren Schmatz auf die Lippen und fegte zum Fensterbrett. »Ich wußte doch, daß alles gut wird. Seht her, ich hab eine Flasche Cliquot kühl gestellt. Wir müssen ein Gläschen miteinander trinken.«
Derweil ging der Joker zu den am Boden liegenden Säcken. Versetzte einem von ihnen einen schwungvollen Tritt und genauso dem nächsten, so als prüfte er, wie prall sie gefüllt waren. Dann schwenkte er auf dem Absatz leicht herum und stieß den Fuß ebenso federnd, doch mit dreifacher Wucht in Grins Unterleib.
Vor Schmerz und Überraschung wurde Grin schwarz vor Augen. Er krümmte sich nach vorn und bekam den nächsten Tritt in den Nacken. Plötzlich hatte er die Dielenbretter dicht vor den Augen. Er mußte gefallen sein.
Wie man Schmerz ertrug, gar einen solchen, darin kannte Grin sich aus. Es galt, dreimal schnell ein- und dreimal forciert auszuatmen, die Schmerzzone dabei aus dem Bereich der physischen Wahrnehmung zu separieren. Seinerzeit hatte er ausgiebig mit Feuer experimentiert – sich die Handfläche versengt, Armbeuge, Kniekehle – und so die schwierige Kunst erlernt.
Doch die Schläge hörten nicht auf: Sie prasselten auf Rippen, Schultern und Kopf hernieder.
»Dich Schwein schlag ich tot«, hörte er Joker sagen. »Dich quetsch ich zu Brei! Mich zum Affen machen!«
Grin hatte keine Zeit, sich der Bekämpfung seines Schmerzes zu widmen. Er wandte sich dem nächsten Tritt entgegen, bot ihm den offenen Bauch, doch dafür gelang es ihm, die Hände in den Filzstiefel zu krallen und nicht wieder loszulassen. Von nahem sah man, daß der Stiefel schon nicht mehrso hell war wie vorhin: Schmutz klebte an ihm und Blut. Er riß ihn zu sich heran und warf Joker um. Dann ließ er den Stiefel fahren, um mit den Händen an Jokers Kehle zu gelangen, doch sein Gegner
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