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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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von Sinnen. Ihr starrer, entsetzter Blick ging zwischen dem Flaschenhals in ihrer Hand, dem am Boden Liegenden und dem sich rasch ausbreitenden, schäumend mit dem Champagner sich mischenden Blut hin und her.
    Grin schritt über den leblosen Körper hinweg, packte Julie bei den Schultern und schüttelte sie heftig.

SIEBTES KAPITEL,
    in welchem die Ermittler am Ende so schlau sind wie zuvor
    Am Dienstag hatte Erast Fandorin gleich in aller Frühe die Suche nach dem Verräter aufnehmen wollen, doch aus der Frühe wurde nichts, da sich im Seitenflügel an der Malaja Nikitskaja erneut Damenbesuch eingefunden hatte.
    Esfir war unvorangemeldet erschienen – und dies nach Mitternacht, als der Staatsrat, im Kabinett umherwandernd, mit der Perlenschnur zwischen den Fingern den Hergang des Falles zu rekonstruieren versuchte. Die Besucherin verlor keine Zeit mit langer Vorrede, ging entschlossen zur Sache: Schon in der Diele, noch ohne ihren Zobelumhang abgeworfen zu haben, fiel sie Fandorin heftig um den Hals, was ihn davon abhielt, seine Deduktionsversuche allzubald fortzusetzen.
    Genauer gesagt, ging das erst am nächsten Morgen, als Esfir noch schlief. Fandorin stahl sich aus dem Bett, nahm im Sessel Platz und versuchte, den gerissenen Faden wieder anzuknüpfen. Es klappte nicht recht. Die geliebte Jadeperlenschnur, die mit ihrem strengen, trockenen Klicken das Denken so disziplinierte, war im Kabinett liegengeblieben. Selbst bloßes Auf- und Ablaufen (auch einfache Muskelbewegungen stimulieren die Hirntätigkeit) schien zu riskant. Beim geringsten Geräusch würde Esfir hochfahren. Und von nebenan war Masas Schnaufen zu hören: Der Diener harrte geduldig des Moments, da er mit seinem Herrn zur Gymnastik schreiten konnte.
    Doch keine Erschwernis kann den Edlen daran hindern,die Gedanken auf Höheres zu richten, rief der Staatsrat sich den Satz seines geliebten fernöstlichen Weisen ins Gedächtnis. Prompt, so als hätte die Erwähnung von Erschwernissen in ihren Gehörgang gefunden, streckte Esfir den nackten Arm unter der Decke hervor, tastete über das benachbarte Kopfkissen und maunzte klagend, als sie es unbesetzt fand – einstweilen noch instinktiv, im Schlaf. Es galt, schneller zu denken.
    Diana! entschied Fandorin. Bei ihr mußte man beginnen. Zumal die übrigen Spuren ohnehin verfolgt wurden.
    Die geheimnisvolle »Mitarbeiterin« also, die mit der Gendarmerie, der Geheimpolizei und den Revolutionären gleichermaßen verbandelt schien. Und dabei, so durfte man annehmen, alle gleichermaßen verriet. Gegen jede Art Moral verstieß, nicht nur die politische, wie sich aus Swertschinskis und Burljajews Verhalten ersehen ließ. Konnte es übrigens sein, daß man in revolutionären Kreisen die Beziehungen der Geschlechter tatsächlich freier handhabte, als in der Gesellschaft gang und gäbe?
    Skeptisch betrachtete Fandorin sein schlafendes Dornröschen. Jetzt rührten sich die roten Lippen, etwas Lautloses formend, und die langen schwarzen Wimpern zuckten. Zwischen ihnen glommen zwei feuchte Fünkchen auf, um schon nicht mehr zu erlöschen. Esfir klappte die Augen auf, sah Fandorin und lächelte.
    »Was machst du da?« fragte sie, die Stimme noch rauh vom Schlaf. »Komm her.«
    »Ich … Ich wollte dich was fragen …«, begann er, zögerte und brach ab.
    Gehörte es sich, private Beziehungen zu Ermittlungszwecken zu mißbrauchen?
    »Frag doch!« Sie setzte sich gähnend auf. Räkelte sich wohlig, so daß die Decke ein wenig herabrutschte und Fandorin Mühe hatte, sich nicht ablenken zu lassen.
    Er fand eine Lösung für seinen moralischen Zwiespalt.
    Über Diana durfte er sie selbstverständlich nicht ausfragen. Über ihr revolutionäres Umfeld erst recht nicht – und sowieso gehörte Esfir wohl kaum einer ernst zu nehmenden regierungsfeindlichen Bewegung an. Zugelassen waren Fragen allgemeinsten Charakters – soziologische, sozusagen.
    »Sag mal, Esfir, stimmt es, daß die F-frauen der Revolution in … äh, Liebesdingen sehr freizügige Einstellungen pflegen?«
    Sie lachte auf, zog die Knie ans Kinn, umschlang sie mit den Armen.
    »Ich hab’s gewußt! Was bist du bloß für ein typischer Bourgeois. Sobald eine Frau einmal nicht das ganze übliche Spektakel weiblicher Zurückhaltung abzieht, wird sie loser Sitten verdächtigt. ›Wo denken Sie hin, mein Herr, so eine bin ich nicht! Pfui, welch ein Unflat! Nein, nein, nein – erst die Hochzeit!‹« äffte sie mit widerwärtig spitzmundigem Stimmchen. »So wollt

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