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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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von weitem sichtbar sein. Ausreichend Zeit, sich zu orientieren und zu rüsten.
    Direkt vor der Kreuzung lag quer über das Pflaster eine lange Bohle – gerade dick genug, daß ein Gespann leicht darüberhinweggehen, der Schlitten aber hängenbleiben mußte. Fünfzig Schritt dahinter klaffte rechterhand in der Häuserfront eine Lücke: Somowski tupik, eine Sackgasse. Dort, hinter der steinernen Kirchumfriedung, saßen die jungen Schützen wohl schon bereit. Eben lugte ein Kopf um die Ecke: Jemelja, Ausschau haltend.
    Jokers Plan war gut – einfach und solide. Keine unnötigen Komplikationen.
    Es war noch früh am Abend, doch an den Säumen wurde der Himmel schon fahl, ein trübes Grau schob sich vor. In einer halben Stunde würde die Dämmerung hereinbrechen, bis dahin mußte die Aktion gelaufen sein, und für den Rückzug kam die Dunkelheit zupaß.
    »Es ist fünf«, teilte Joker mit und ließ den Deckel seiner teuren, an einer dicken Platinkette hängenden Uhr zuschnappen. »Sie verlassen jetzt die Expedition. In fünf Minuten sehen wir sie.«
    Er schien nun gespannt wie eine Feder, konzentriert, mit fröhlichen Fünkchen in den Augen. Das Schicksal hatte dem Oberpriester wahrlich einen Streich gespielt, als es ihm solch einen Wolfswelpen ins fromme Familiennest legte. Grin fragte sich (und es war eine eher theoretische Frage), was man wohl dereinst in einer freien, harmonischen Gesellschaft mit solchen Leuten anstellen würde? Denn die Natur würde dergleichen immer wieder in bestimmten Anteilen hervorbringen. Und eine angeborene Neigung war durch Erziehung nicht immer auszumerzen.
    Aber riskante Berufe, fiel ihm ein, solche, die Menschen von draufgängerischer Wesensart erforderten, würde es auch weiterhin geben. Dafür war ein Joker der rechte Mann: in die Meerestiefen vorzudringen, abweisende Gipfel zubezwingen, Flugapparate beherrschen zu lernen. Und danach, ein halbes Jahrhundert später vielleicht, gab es andere Planeten zu erforschen. Arbeit war für alle da.
    »Verschwinde!« herrschte Joker den Hausknecht an, der sich eben ächzend nach der Bohle bückte, um sie beiseite zu wälzen. »Die gehört uns! Das Fuhrwerk kommt gleich zurück und holt sie. Ach, diese Leute, schleppen weg, was nicht niet- und nagelfest ist …«
    Der Knecht flüchtete vor dem wütenden Mann hinter ein Eisentor, und auf der Straße war es leer wie zuvor.
    »Da-a-a kommt es, unser li-i-iebes Geld«, sagte der Joker gedehnt, mit leiser, schnurrender Stimme. »Gehn Sie nach drüben auf die andere Seite. Und ja nicht zu früh vorpreschen! Achten Sie auf mich.«
    Zunächst sah man nur einen länglichen dunklen Schemen, dann wurden einzelne menschliche Umrisse erkennbar – und zwar genau in der von Joker vorausgesagten Anordnung.
    Vorneweg zwei berittene Wächter mit geschulterten Karabinern.
    Dahinter die Kutsche der Wertpapier-Expedition, ein großes geschlossenes Gefährt auf Kufen. Auf dem Bock außer dem Kutscher der aufsichtsführende Unteroffizier und der Expediteur.
    Seitlich der Kutsche ritten weitere Wächter: zwei links, zwei rechts.
    Den Abschluß des Konvois bildete ein Schlitten, der von vorne logischerweise nicht zu sehen war. Darin mußten noch vier Wachleute mit Karabinern sitzen.
    Jemelja kam um die Ecke und lehnte sich gegen die Mauer. Sah zu, wie die Prozession an ihm vorüberfuhr. In der Hand hielt er ein rundes Bündel. Darin war die Bombe.
    Grin fuhr mit dem Finger über den geriffelten Griff seines Colts und wartete darauf, daß die vorderen Reiter die Bohle bemerken und stoppen würden. Die Uhr über der Apotheke zeigte neun Minuten nach fünf.
    Doch schon setzten die Pferde gleichmütig ihre Hufe über das Hindernis, erst der Kutscher machte brrr! und straffte die Zügel, die Kutsche hielt an.
    »He, ihr Hammel, wohin wollt ihr?« brüllte der Unteroffizier, sich halb erhebend. »Seht ihr den Klotz nicht? Absteigen und wegzerren, das Ding! Und du pack mit an!« Er stieß den Kutscher in die Seite.
    Da er sah, daß der Konvoi zum Stehen gekommen war, kam Jemelja im Spazierschritt, wie aus reiner Neugier, von hinten auf das abschließende Gefährt zugeschlendert.
    Und just in dem Moment, als die beiden Wächter und der Kutscher sich gebückt und die Bohle untergefaßt hatten, nahm Jemelja kurz Anlauf, schleuderte das Bündel von sich und stieß dabei einen verwegenen Schrei aus:
    »He-hopp!«
    Das Gebrüll mußte sein, damit die Wache mitbekam, wer die Bombe geworfen hatte. Das war für den Fortgang der Aktion

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