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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Seitenausgang marschieren, auf den Vorplatz raus. Und ab durch die Mitte.«
    Grin hörte Jemelja zu und sah Stieglitz dabei an. Der war ungewohnt wortkarg und bedripst. Saß, den Kopf aufgestützt, auf einem der Geldsäcke, unglücklich dreinschauend, Tränen in den Augen.
    »Mach dir nichts draus«, sagte Grin zu ihm. »Ihr habt alles richtig gemacht. Daß es schief ging, dafür könnt ihr nichts. Morgen denk ich mir was Neues aus.«
    »Ich … ich wollte rufen, aber dann war’s zu spät«, schluchzte er auf einmal, zu Boden blickend. »Nein, stimmt nicht. Ich hätte rufen können und hab mich nicht getraut. Weil, dann wäre Jemelja vielleicht geliefert gewesen. Und es hatte ja auch schon das zweite Mal geläutet. Aber Jemelja konnte es von der Seite nicht sehen …«
    »Was konnte ich nicht sehen?« fuhr Jemelja ihm ins Wort. »In der kurzen Zeit hätte er gar nicht rausgekonnt. Ich war ja gerade noch langgelaufen. Der Blaukittel saß, wo er saß.«
    »Das meine ich nicht. Kaum daß du am Fenster vorbei warst, kamen Leute in den Dienstraum rein. Eine Frau mit einem Jungen, in Schuluniform. Fünfte Klasse vielleicht.«
    »Ach so …« Jemeljas Augenbrauen zogen sich zusammen. »Der Knirps tut dir leid. Na, bloß gut, daß du nicht gerufen hast. Ich hätte das Ding trotzdem reingeschmissen, aber der Rückzug wäre heikel geworden.«
    Stieglitz hob entgeistert die tränennassen Augen.
    »Wieso trotzdem? Die hatten doch nichts damit zu tun!«
    »Dafür hatten unsere Damen was damit zu tun!« sagte Jemelja hart. »Wären wir geschnappt worden, wären die zwei mitsamt dem Geld aufgeflogen, und dann gute Nacht. Und bedenke, dann wäre Arseni umsonst in den Tod gegangen, Julie und Nadel säßen umsonst hinter Gittern, und keiner könnte unsere Leute in Odessa vor dem Galgen retten.«
    Grin stand auf und ging zu dem Jungen, legte ihm unbeholfen die Hand auf die Schulter. Sodann versuchte er etwas schlüssiger zu erklären, worüber er schon des öfteren nachgedacht hatte.
    »Das mußt du begreifen. Es herrscht Krieg. Und wir stehen an der Front. Drüben auf der anderen Seite gibt es alle möglichen Leute. Auch gute, nette, anständige. Aber sie tragen nun mal die andere Uniform, sind also Feinde. Das ist wie damals bei Borodino. Mensch, Junge, Borodino 1812, Lermontows Ballade, weißt du nicht mehr? ›Moskau wäre nicht gefallen, wenn Gott gewollt wie wir …‹ Bei Borodino, da wurde geschossen, ohne zu fragen, ob der andere gut oder schlecht war. Er war ein Franzose – peng. Und unsere Feinde sind ärger als alle Franzosen. Da darf man kein Mitleid haben. Das heißt, man darf schon, man muß es sogar. Nur nicht jetzt. Hinterher. Erst der Sieg. Dann das Mitleid.«
    Im Kopf war ihm das alles sehr überzeugend vorgekommen. Ausgesprochen schien es weniger wert.
    Stieglitz sprang gleich darauf an.
    »Das mit dem Krieg leuchtet mir ein. Und wo es um den Feind geht. Um die, die meinen Vater und meine Mutter auf dem Gewissen haben. Aber dieser Schuljunge mit seinerMama, was haben die damit zu schaffen? Im Krieg wird die zivile Bevölkerung doch auch verschont?«
    »An sich schon. Aber wenn die Kanone losgeht, kannst du nie hundertprozentig wissen, wo die Kugel einschlägt. Kann sein, in ein Haus, in dem Leute wohnen. Das ist schlecht, das ist bedauerlich, aber es ist Krieg.« Grin ballte eine Hand zur Faust, damit die Worte sich nicht verknäulten. Sonst würde Stieglitz es nie verstehen. »Meinst du, die anderen würden die Zivilbevölkerung verschonen? Wir tun es wenigstens nicht absichtlich. Du hast selbst von deiner Mutter gesprochen. Wofür haben die sie in den Kasematten zugrunde gehen lassen? Dafür, daß sie deinen Vater geliebt hat. Und was tun die Tag für Tag, Jahr für Jahr, seit Jahrhunderten mit uns, mit ihrem eigenen Volk? Sie schröpfen es, hungern es aus, demütigen es, drücken es in den Dreck.«
    Hierauf erwiderte Stieglitz nichts mehr, doch Grin konnte sehen, daß das Gespräch noch nicht beendet war. Gut, ein andermal.
    »Schlaft jetzt«, sagte er. »Der Tag war hart. Und morgen müssen wir das Geld unbedingt auf den Weg bringen. Sonst war die Sache umsonst.«
    »Puh!« seufzte Jemelja, während er sein Haupt auf einen Sack mit hunderttausend Rubeln bettete. »Da haben wir geochst, uns diese Kröten unter den Nagel zu reißen, und jetzt fällt uns nicht ein, wie wir sie wieder loswerden. Ich sag ja immer: Wer keine Sorgen hat, der macht sich welche.«
     
    Er überlegte beinahe die ganze Nacht. Am Morgen

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