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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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und der traute seinen Augen nicht: Das Loch war schon halb vernarbt.
    Alte Erinnerungen. Sie brachten ihn auf die Idee.
    Alles war ganz einfach – wenn Lobastow einwilligte.
    Er mußte. Da er doch inzwischen wußte, daß die KG auch ohne seine Hilfe zurechtkam. Von Swertschinski würde er gehört haben. Abzulehnen darum nicht wagen.
    Außerdem hegte Grin eine Vermutung, für die ihm der Beweis noch fehlte. Konnte es sein, daß Timofej Grigorjewitsch Lobastow hinter TG, seinem »Geheimkorrespondenten«, steckte? Es war naheliegend. So gerissen und argwöhnisch einerseits, auf fremde Geheimnisse erpicht er andererseits war. Ein doppelbödiger Charakter, immer zum Spiel aufgelegt – am liebsten einem, dessen Regeln nur er kannte.
    Und wenn es so war: um so besser.
    Leise, um Stieglitz nicht zu stören, weckte er Jemelja. Erklärte ihm halblaut, was zu tun war, in knappen Worten. Jemelja war nicht so schwer von Begriff, wie er aussah.
    Er zog sich schweigend an, fuhr sich einmal mit gespreizten Fingern durch den blonden Haarschopf, zog die Schirmmütze darüber. So einen sah man und vergaß ihn gleich wieder. Ein gewöhnlicher Fabrikarbeiter, wie sie in Lobastows Manufaktur zu Tausenden vorkamen.
    Er führte das Pferd aus dem Schuppen, warf die Säcke in den Schlitten, breitete nachlässig eine Lage Lindenbast darüber, und schon glitt das Gefährt die Brache querfeldein über den frisch gefallenen Schnee, auf die dunklen Speicherhäuser zu.
    Nun hieß es warten.
    Grin saß reglos am Fenster, zählte seine Herzschläge und konnte es wie feinste Nadelstiche spüren, daß das zerschnittene Fleisch sich schloß, Bruchflächen sich aneinanderschmiegten, neue Hautzellen aufeinander zuwuchsen.
    Um halb acht trat der Stellwerker Matwej auf den Hof heraus. Den einzigen Raum seines Büdchens hatte er an die Gäste abgetreten, schlief selbst auf dem Heuboden. Ein mürrischer, wortkarger Mann. Solche mochte Grin. Matwej hatte keine Fragen gestellt. Wenn die Partei ihm Leute schickte, mußte das seine Richtigkeit haben. Wenn die nicht sagten, wieso und warum, dann hatte es so zu sein. Matwej griff eine Handvoll Schnee, rieb sein Gesicht damit ab und machte sich wiegenden Schrittes, den Rucksack mit dem Werkzeug schwenkend, auf den Weg ins Depot.
    Stieglitz erwachte kurz nach zehn.
    Er sprang nicht gleich auf, frisch und munter wie sonst. Erhobsich schwerfällig, blickte Grin nur kurz an, sprach keinen Ton. Ging sich waschen.
    Es war nicht zu ändern. Den Jungen gab es nicht mehr, dafür hatte die Kampfgruppe ein neues Mitglied. Auch seine Farbe hatte sich seit gestern merklich verändert: nicht mehr dieser zarte Pfirsichton. Dichter, kräftiger.
    Gegen Mittag war ihr Problem gelöst.
    Jemelja hatte mit eigenen Augen gesehen, wie das Geld in einen Waggon voller Säcke mit Textilfarbe geladen wurde, die für Lobastows Petersburger Filiale bestimmt war; zum Schluß kam die Plombe davor. Eine kleine Lokomotive zog den Waggon zum Rangierbahnhof, wo er an einen Güterzug angekoppelt werden würde; um drei Uhr nachmittags sollte der Zug die Stadt in gemächlichem Tempo verlassen.
    Das übrige war Julies Sache.
    Grins Herz schlug gleichmäßig, ein Schlag pro Sekunde. Der Organismus war dabei, sich zu regenerieren. Alles war gut.

NEUNTES KAPITEL,
    in welchem viel von Rußlands Gegenwart und Zukunft die Rede ist
    Den Rest dieser schlaflos, ruhelos und ratlos verbrachten Nacht war Fandorin auf dem Nikolaus-Bahnhof gewesen – in der Hoffnung, das Geschehene rekonstruieren und Spuren der Täter finden zu können. Obwohl es jede Menge Zeugen gab, blau uniformierte ebenso wie zivile, konnten sie zur Klärung wenig beitragen. Alles sprach von einem bombenwerfenden Offizier, doch wie sich herausstellte, hatte niemand ihn gesehen. Daß die observierenden Polizisten und Agenten auf die in den Zug Einsteigenden fixiert gewesen waren, keiner die Fensterfront des Bahnhofsgebäudes im Visier gehabt hatte, ließ sich nachvollziehen. Trotzdem sonderbar: Da gaben sich auf diesem Bahnsteig professionelle Beobachter zu Dutzenden die Ehre, und dann kam einer daher und sprengte ihren Vorgesetzten in die Luft, und keinem war nur das Geringste aufgefallen. Wenn überhaupt etwas die Hilflosigkeit der Polizei entschuldigen konnte, dann die unerhörte Dreistigkeit des Angriffs.
    Klar war nicht einmal, aus welcher Richtung die Bombe geworfen worden war. Am wahrscheinlichsten vom Flur her, denn keiner hatte in den Sekunden vor der Explosion Scheiben klirren

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