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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Außerdem machte Nadel ihre Sache gut.
    Neugierig sah er zu, wie sie mit winzigen, akkuraten Stichen die Nähte anlegte, erst an der Hüfte, dann am Handgelenk.
    »Heißen Sie deswegen so?« fragte er.
    Die Frage klang unbeholfen, das spürte er selbst, doch Nadel verstand.
    »Nein. Deswegen.«
    Mit einer flinken Bewegung ging ihre Hand zu dem straffen Haarknoten im Nacken und zog eine lange, spitze Ahle daraus hervor.
    »Wozu ist die?« staunte er. »Zur Selbstverteidigung?«
    Sie säuberte auch die zerschlagene Braue mit Spiritus, zog zwei Schlingen. Erst dann gab sie Antwort.
    »Nein. Um mich zu erstechen, wenn sie mich kriegen. Ich weiß genau, wohin.« Sie zeigte auf die Stelle am Hals. »Ich bin klaustrophobisch. Enge Räume kann ich nicht ertragen. Mit Gefängnis würden sie mich wahrscheinlich weich kriegen.«
    Das Blut stieg ihr ins Gesicht – man sah, daß ihr das Geständnis nicht leichtfiel.
    Kurz darauf trafen Jemelja und Stieglitz ein.
    »Verletzt?« fragte Stieglitz erschrocken.
    Und Jemelja, kaum daß er sich im Raum umgeblickt hatte, mit gefurchter Stirn: »Wo ist Rachmet?«
    Die erste Frage ließ Grin unerwidert, weil sie überflüssig war. Auf die zweite sagte er nur: »Wir sind von jetzt an zu dritt. Erzählt.«
    Stieglitz übernahm es. Jemelja hatte ab und an etwas zu ergänzen. Grin hörte kaum hin. Er wußte, daß der Junge sich aussprechen mußte – zum ersten Mal war er bei einer richtigen Aktion dabei gewesen. Aber die Einzelheiten der Schießerei interessierten Grin nicht besonders. Es gab anderes zu bedenken.
    »… ist noch ein Stück gelaufen und dann gestürzt. Hier hat es ihn erwischt.« Stieglitz deutete auf eine Stelle oberhalb seines Schlüsselbeins. »Splint und ich, wir wollten ihn wegtragen, aber da hatte er sich schon den Revolver an die Schläfe gesetzt, so schnell konnte man gar nicht gucken … Den Kopfhat es zur Seite gerissen, und er ist umgekippt. Und wir sind gerannt …«
    »Gut«, unterbrach ihn Grin. Er fand, daß das genügte. »Zur Sache. Die Säcke mit dem Geld sind am Bahnhof. Sie zu klauen war das eine, jetzt müssen wir sie nach Petersburg schaffen. Nicht einfach. Polizei, Gendarmerie, Agenten. Vorher haben sie bloß uns gejagt, jetzt jagen sie uns und das Geld. Und es muß schnell gehen.«
    »Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Nadel schnell. »Man könnte sechs Mann losschicken, jeder mit einem Sack. Daß alle sechs hängen bleiben, ist unwahrscheinlich, irgendwer kommt auf alle Fälle durch. Ich könnte mich morgen darum kümmern. Fünf Mann hätte ich, ich wäre die sechste. Als Frau hat man es sogar einfacher.«
    »Überschlafen wir das«, schlug Jemelja vor und räkelte sich.
    »Ich könnte auch einen nehmen«, meldete Julie sich zu Wort. »Obwohl, in meinem Gepäck fiele ein Sack zu sehr auf. Vielleicht, daß ich das Geld in einen Koffer umpacke?«
    Grin zog die Uhr aus der Tasche. Es war halb zwölf.
    »Nein. Morgen wird alles abgeriegelt sein, dann ist kein Durchkommen mehr. Alles Gepäck wird kontrolliert. Das hat keinen Zweck. Es muß heute passieren.«
    »Heute?« fragte Nadel ungläubig zurück. »Sie wollen das Geld heute nach Petersburg schaffen?«
    »Ja. Mit dem Nachtzug. Um zwei.«
    »Aber das ist ganz unmöglich! Schon jetzt ist die Polizei komplett alarmiert. Auf dem Weg hierher habe ich mehrmals gesehen, wie Fuhrwerke angehalten wurden. Man kann sich ausmalen, was auf dem Bahnhof los ist …«
    Nun rückte Grin mit seinem Plan heraus.
     
    Nur eines war nicht vorherzusehen gewesen: daß der Bahnhofsvorsteher in seinem Schreck nach der Detonation den Petersburger Zug nicht mehr abfahren und überhaupt jeglichen Zugverkehr einstellen ließ.
    Bis dahin war alles streng nach Plan verlaufen.
    Zwanzig vor zwei brachte Grin Nadel und Julie, verkleidet als gnädiges Fräulein und Dienstmädchen, zur Gepäckaufbewahrung. Er blieb im Schlitten zurück.
    Der Träger hatte die Säcke eben auf seinen Karren geladen und schickte sich an, sie zum Zug zu zerren, als die dürre, verkniffene Herrin dem niedlichen Dienstmädchen plötzlich einen Skandal zu machen anfing, irgendeiner zu Hause vergessenen Hutschachtel wegen, und sich dabei so echauffierte, daß sie erst innehielt, als die Glocke schon zum zweiten Mal zum Einsteigen aufforderte – worauf sie auch gleich noch den Träger beschimpfte: wieso er denn so trödelte und die Säcke nicht endlich zum Gepäckwagen brachte? Wider Erwarten spielte Nadel ihre Rolle hervorragend.
    Diese zweite Glocke war

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