Tote im Salonwagen
das Signal zum Handeln auch für Jemelja und Stieglitz. Die vorher ausreichend Zeit gehabt hatten, zu Nobel zu fahren und eine Bombe zu holen.
Es klappte. Just als der Karren mit den Säcken sich der Sperre zum Bahnsteig näherte und vier Herren in Zivil auf den Träger zueilten, der von dem keifenden Fräulein immerzu mit der Handtasche in den Rücken gestupst wurde, gab es einen dumpfen, hallenden Donnerschlag, begleitet von Schreien und Scheibenklirren.
Die Agenten hatten den Karren augenblicklich vergessen und rasten zum Ort der Explosion, während das Fräulein den verdatterten Gepäckträger mit Püffen traktierte, damit er sich umdrehte und weiterlief. Was ging sie das Tohuwabohuauf diesem Bahnhof an – der Zug würde ja doch nicht warten.
Das Weitere ließ sich nicht mehr beobachten, doch Grin zweifelte nicht daran, daß Julie und Nadel ihren Waggon wohlbehalten erreichen und die Säcke reibungslos in das Abteil verfrachtet würden. Nach Gepäckkontrollen stand Gendarmen und Agenten gerade nicht der Sinn.
Doch es vergingen Minuten, ohne daß das Signal zur Abfahrt ertönte. Um zwanzig nach zwei entschloß sich Grin zu einem Erkundungsgang. So kopflos wie die Blaumäntel hinter den Bahnhofsfenstern durcheinanderwuselten, mußte er nicht fürchten, gestellt zu werden.
Er sprach mit einem verstörten Bahnhofsbeamten. Erfuhr, daß irgendein Offizier eine Bombe auf einen hohen Polizeibeamten geworfen habe und untergetaucht sei. Das war gut. Erfuhr des weiteren, daß die Strecke nach Petersburg für heute nacht gesperrt bleiben würde. Was nichts anderes hieß, als daß die Aktion in der Hauptsache gescheitert war.
Es dauerte fast eine Stunde, bis Nadel und Julie mit den Säcken zurück waren.
Er ließ die Frauen am Bahnhof stehen und kutschte das Geld ins Quartier am Windauer Bahnhof.
Jemelja berichtete die Einzelheiten.
»Bevor ich aus der Halle raus auf den Bahnsteig durfte, haben sie mich von Kopf bis Fuß gefilzt. Aber ich war astrein, ohne Gepäck, mit einem Fahrschein dritter Klasse nach Petersburg. Keiner konnte mir was anhaben. Ich bin also auf den Bahnsteig raus, hab mich ein bißchen abseits gestellt und gewartet. Auf einmal seh ich, unser kleiner Stieglitz kommt angeflattert. Mit soo einem Blumenstrauß und knallrotenBäckchen. Ihn nahmen sie überhaupt nicht ernst. Wer denkt bei so einem Engel, daß er eine Bombe im Bukett hat. Wir haben uns nach hinten verkrümelt, wo’s ein bißchen dunkler war. Dort hab ich die Bombe vorsichtig rausgezogen und eingesteckt. Der Bahnhof war voll, trotz nachtschlafender Zeit. Viele, die irgendwen abholen wollten, der Personenzug aus Petersburg hatte Verspätung. Dazu die Leute, die zum Nachtzug wollten. Wunderbar, dachte ich mir. Wird keiner ein Auge auf dich haben. Also hab ich mich schon mal zum Fahrdienstraum vorgetastet. Der hat, mußt du wissen, ein Fenster direkt auf den Bahnsteig raus. Die Gardinen aufgezogen, alles prima einzusehen. Unser Geburtstagskind saß am Tisch, irgendein kleiner grüner Offizier hockte neben der Tür und guckte in die Luft. In Abständen kam jemand rein und ging wieder raus, warum auch nicht, die Leute sind zum Arbeiten dort und nicht zum Schlafen. Und plötzlich, ich bin schon halb vorbei, was sehe ich: Die Luke im Oberfenster steht weit offen. War wohl überheizt, der Laden. Da wurde auch mir in der Seele gleich richtig warm: Mensch, Jemelja, dachte ich mir, vielleicht ist es zum Sterben ja doch noch zu früh. Wer so viel Dusel hat, der könnte es schaffen zu verduften. Mein Stieglitz stand wie verabredet in Höhe des Fensters, zwanzig Schritt entfernt. Ich hab mich erst noch mal in den Schatten verdrückt. Dann kam das erste Glockenzeichen: noch zehn Minuten bis zur Abfahrt. Noch neun, noch acht … Ich stand da und hab gebetet zum Heiligen Nikolaus und zum Unheiligen Luzifer: daß sie bloß nicht inzwischen die Luke zumachen! Und dann: dingdong! – die zweite Glocke. Es war soweit! Ich am Fenster vorbeigewackelt und zack, so aus dem Handgelenk, den Böller durch die Luke geschmissen. Flog glatt durch, das Ding, ohne denRahmen zu streifen. Ich hab vielleicht noch fünf Schritte geschafft, dann hat’s gewummert – aber wie! Und was dann losging, mein Lieber! Ein einziges Gerenne und Gepfeife und Gebrüll. Nur meinen Stieglitz, den konnte ich flöten hören: ›Da vorne rennt er! Bei den Gleisen! Im Offiziersmantel!‹ Prompt ist die ganze Meute dorthin getrabt, derweil konnten wir brav und artig durch den
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