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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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überlegte er immer noch.
    Ihm fiel nichts ein.
    Sechs Säcke wogen schwer. Die ließen sich nicht unauffälligtransportieren, nach den gestrigen Ereignissen schon gar nicht. Bestimmt war die Gendarmerie nun vollends aus dem Häuschen.
    Die Fracht auf sechs Boten zu verteilen, wie Nadel es vorgeschlagen hatte, mochte angehen. Für diesen Fall war es am wahrscheinlichsten, daß Julie und Nadel durchkamen, die übrigen vier nicht. Junge Männer mußten den Argwohn der Agenten am ehesten auf sich ziehen. Zwei Drittel des Geldes zu verlieren und vier Genossen zu opfern – das war ein zu hoher Preis für zweihunderttausend Gewinn.
    Und wenn man nur die Frauen losschickte, jede mit hunderttausend, den Rest des Geldes vorerst hier behielt? Auch das wäre gegangen, doch gleichfalls nicht ohne Risiko. Es waren zuviel Pannen passiert in den letzten Tagen. Allein schon der Fall Rachmet. Bestimmt hatte er der Geheimpolizei die kompletten Steckbriefe der Gruppenmitglieder geliefert, von Nadel noch dazu.
    Wo die zu finden war, konnte Rachmet zwar nicht wissen. Doch Aronson, den Privatdozenten aus der Ostoshenka, hatte er unter Garantie verraten. Von ihm zu Nadel war es nur ein Schritt.
    Und dann noch Arseni Simin, der auf dem Kirchhof liegengeblieben war. Inzwischen ganz sicher identifiziert. Man würde sein Umfeld erkunden und früher oder später einen Anhaltspunkt finden.
    Das hieß: Die Gruppe war in Gefahr. Brauchte Bewegungsfreiheit, ohne Klotz am Bein.
    Sie mußten das Geld so schnell wie möglich abstoßen.
    Die Lage verkomplizierte sich auch dadurch, daß Grin dringend Erholung brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen. Er hatte in sich hineingehorcht und war zu dem Schlußgekommen, nicht voll handlungsfähig zu sein. Nach dem Zusammenprall mit Joker gab sein Organismus ihm zu verstehen, daß er ausspannen mußte. Grin pflegte auf seinen Körper zu hören, da er wußte, daß der nichts Unnötiges verlangte. Wenn er eine Atempause einforderte, so war sie ihm zu gewähren. Sich darüber hinwegzusetzen hieß, höheren Schaden in Kauf zu nehmen, nachzugeben hingegen zahlte sich aus: Der Organismus kam in kürzester Zeit wieder in Gang. Hierfür waren keine Medikamente nötig, nur völlige Ruhe und Selbstbeherrschung. Einfach daliegen, vollkommen bewegungslos, einen Tag lang oder besser zwei – und die gebrochene Rippe würde sich richten, die genähten Wunden würden verheilen, die abgeschlafften Muskeln ihre Spannkraft zurückgewinnen.
    Sechs Jahre war es her, daß Grin in Wladimir aus dem Gefangenentransport entwichen war. Er hatte das Gitter aus dem Waggonfenster gebrochen und war hinunter auf das Gleisbett gesprungen – dummerweise gerade vor die Füße eines Wachsoldaten, der ihm das Bajonett in die Schulter rammte. Den Verfolgern zu entkommen, war er Zickzack zwischen den Gleisen und Zügen gelaufen, den Rücken naß vom Blut. Am Ende verkroch er sich in einem Lagerhaus zwischen riesigen Ballen von Schaffellen. Das Versteck durfte er nicht gleich wieder verlassen, der Flüchtling wurde überall gesucht. Bleiben ging ebensowenig: Man hatte begonnen, die Ballen zu verladen, es wurden weniger und weniger. Da knüpfte er einen von ihnen auf, kroch hinein zwischen die nassen, stinkenden Häute – wahrscheinlich hatte man sie extra eingeweicht, damit sie mehr auf die Waage brachten. Weshalb das zusätzliche Gewicht nicht weiter auffiel. Die Arbeiter zerrten den Riesenballen mit Haken vom Fleck, schleiftenihn über die Planken. Am Ende landete er in einem Waggon, der von außen versiegelt wurde, und der Zug rollte gemütlich gen Westen, an allen Schlagbäumen, allen Patrouillen vorbei. Wer wäre auf die Idee gekommen, einen plombierten Waggon zu kontrollieren? Der Zug brauchte seine Zeit bis Moskau, sechs Tage. Den Durst stillte Grin, indem er die Feuchte aus der klammen Schafwolle saugte. Zu essen gab es nichts, also hungerte er. Und doch wurde er nicht schwächer, sondern kräftiger dabei, weil er vierundzwanzig Stunden am Tag darauf verwenden konnte, seinen Organismus per Willensanstrengung instand zu setzen. Wie sich zeigte, war dafür keine feste Nahrung nötig. Als schließlich auf dem Moskauer Rangierbahnhof die Plombe fiel, sprang Grin aus dem Waggon und spazierte seelenruhig an den Transportarbeitern vorbei (die viel zu besoffen waren, als daß sie sich um ihn geschert hätten) zum Ausgang. Keiner versuchte ihn aufzuhalten. Er ging zu einem Arzt, der das Vertrauen der Partei genoß, zeigte ihm die Rückenwunde –

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