Tote im Salonwagen
gehört. Den Zettel mit den Buchstaben KG hatte man allerdings auf dem Bahnsteig gefunden, direkt unter dem Fenster. Vielleicht hatten sie den Sprengkörper durch die offenstehende Luke im Oberfenster geworfen?
Von den vier Personen, die sich zum Zeitpunkt der Explosion im Dienstraum aufgehalten hatten, war einzig Oberleutnant Smoljaninow heil davongekommen – und das nur, weil er zufällig gerade einen Handschuh fallengelassen und sich unter den Eichentisch gebückt hatte, ihn aufzuheben. Bis auf ein einziges Stückchen Metall, das in seinem Arm steckte, hatte die kräftige Tischplatte alle Splitter abgehalten. Einen brauchbaren Zeugen gab der Oberleutnant dennoch nicht ab, konnte sich an nichts erinnern, nicht einmal, ob die Luke im Fenster zuvor offen gewesen war. Swertschinski und die noch nicht identifizierte Dame waren auf der Stelle tot gewesen. Den Gymnasiasten hatte der Sanitätswagen ins Krankenhaus gebracht, doch er war nicht bei Bewußtsein und wohl dem Tode nah.
Auf dem Bahnhof erteilte Posharski die Anweisungen – der Minister hatte ihn in einem Telegramm zum provisorischen Nachfolger des Ermordeten bestellt. Fandorin kam sich irgendwie überflüssig vor. Die Leute schielten nach seinem Frack, der unter den gegebenen Umständen reichlich deplaciert wirkte.
Gegen acht Uhr, als der Staatsrat endgültig jede Hoffnung aufgegeben hatte, noch etwas Nützliches in Erfahrung zu bringen, verabredete er sich mit Posharski für später im Amt und fuhr, in trüben Gedanken befangen, nach Hause. Seine Absicht war, sich für zwei Stunden aufs Ohr zu legen, dann seine gymnastischen Übungen zu absolvieren und den Kopf durch Meditation zu reinigen. Die Ereignisse hatten sich überschlagen, der Verstand kam nicht hinterher, es bedurfte der Einmischung tieferer Seelenkräfte. Unter den Eilenden weile, unter den Zeternden schweige – so eine alte Weisheit.
Leider war es ihm nicht vergönnt, seinen Plan umzusetzen.
Fandorin hatte sich Mühe gegeben, beim Aufschließen der Haustür kein Geräusch zu machen. In der Diele stieß er auf Masa, der dort lag – Rücken gegen die Wand, Beine angezogen – und schlief. Das war außergewöhnlich. Es sah so aus, als hätte er auf seinen Herrn gewartet, ihm irgend etwas mitteilen wollen, bevor der Schlaf ihn übermannt hatte.
Um sich langwierige Erklärungen zu sparen, weckte Fandorin seinen Kammerdiener gar nicht erst (denn dessen Neugier war mindestens so groß wie seine Beflissenheit), schlich auf leisen Sohlen geradenwegs ins Schlafzimmer – und hier konnte er sehen, was Masa ihm wohl hatte mitteilen wollen.
Quer über das Bett hingestreckt lag Esfir. Arme über dem Kopf, der süße Mund halboffen, das denkwürdige Purpurkleid hoffnungslos zerknittert. Sie mußte direkt vom Empfang hergekommen sein, nachdem Erast sich entschuldigt hatte und zum Ort der Tragödie aufgebrochen war.
Fandorin prallte zurück, wollte in sein Kabinett, wo er es sich im großen Sessel ausreichend hätte bequem machen können, stieß dabei jedoch mit der Schulter gegen den Türpfosten. Im nächsten Moment öffnete Esfir die Augen, setzte sich auf und rief mit heller, klarer Stimme, als hätte sie nicht eben noch geschlafen: »Da bist du ja endlich! Was ist, hast du deinen Gendarmen ordentlich beweint?«
Fandorins Nerven waren nach der schweren, fruchtlos durchwachten Nacht zum Zerreißen gespannt. Darum fiel seine Antwort so schroff aus, wie man es von ihm nicht kannte.
»Nur um einen Gendarmerieobersten zu ermorden, auf dessen Stuhl schon m-morgen ein anderer Platz nimmt, habendie Helden der Revolution einer vollkommen unschuldigen Frau den Kopf und einem Jungen die Beine weggesprengt. Ein Greuel und eine Schande, das ist d-deine Revolution!«
»Ach ja? Die Revolution? Ein Greuel und eine Schande?« Esfir war aufgesprungen, stemmte kampflustig die Hände in die Seiten. »Und dein Imperium ist etwas anderes, ja? Die Terroristen vergießen fremdes Blut, doch sie schonen ihr eigenes nicht! Sie opfern sich und dürfen darum auch von anderen Opfer verlangen. Sie töten einige wenige – für das Wohlergehen von Millionen! Wohingegen die, denen du zu Diensten bist, mit ihrem kalten, toten Froschblut, Millionen Menschen knechten und knebeln, damit es einem Häuflein Parasiten wohl geht!«
»Knechten und knebeln, wenn ich das schon höre! B-b-… billige Rhetorik, weiter nichts«, sagte Fandorin müde und rieb sich die Nasenwurzel. Er bedauerte seinen Ausbruch bereits.
»Rhetorik? Rhetorik?«
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