Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
LaManche wollte meine Meinung über das Alter des Kindes wissen. Das würde nicht lange dauern.
Ich legte die Nachricht weg und las die zweite. Es war eine Mitteilung der Polizei, auf der stand: Ossements trouvés dans un bois. Solche Knochenfunde im Wald gehörten zu den Fällen, mit denen ich es ständig zu tun hatte. Bei ihnen konnte es sich praktisch um alles handeln, vom Opfer eines wahnsinnigen Axtmörders bis zu den Überbleibseln einer toten Katze.
Ich rief Denis an und bat ihn, das tote Baby zu röntgen. Dann ging ich nach unten, um mir die Knochen aus dem Wald anzusehen. Lisa brachte einen Karton aus der Leichenhalle und stellte ihn vor mir auf den Tisch.
» C’est tout ?«
» C’est tout .« Das war alles.
Lisa gab mir meine Handschuhe. Ich zog sie an und nahm drei lehmverkrustete Klumpen aus der Schachtel. Aus jedem der Klumpen ragte ein Stück Knochen heraus. Dann versuchte ich, den Lehm abzukratzen, aber er war hart wie Beton.
»Ich möchte, daß diese Klumpen photographiert und geröntgt und dann eingeweicht werden. Aber stellen Sie sie in verschiedene Gefäße. Nach der Besprechung komme ich und sehe sie mir an.«
Jeden Morgen trafen sich die Pathologen am LML mit LaManche, um die anliegenden Fälle zu besprechen und zu neuen Autopsien eingeteilt zu werden. Als ich nach oben kam, saßen LaManche, Nathalie Ayers, Jean Pelletier und Marc Bergeron bereits an dem kleinen Konferenztisch in LaManches Büro. Auf dem schwarzen Brett im Gang hatte ich gesehen, daß Marcel Morin heute vor Gericht war und Emily Santangelo sich einen freien Tag genommen hatte.
Die anderen rutschten zur Seite, so daß ich meinen Stuhl in die Runde stellen konnte, und begrüßten mich mit »Bonjour« und » Comment ça va ?«.
»Wieso sind Sie denn an einem Dienstag im Institut, Marc?« fragte ich Bergeron.
»Morgen ist Feiertag.«
Stimmt. Ich hatte völlig vergessen, daß morgen ja Canada Day war, der kanadische Nationalfeiertag.
»Gehen Sie zur Parade?« fragte Pelletier mit seinem üblichen Pokerface. Sein Französisch war das des Hinterlands von Quebec, und ich hatte anfangs große Mühe gehabt, mir die Bedeutung seiner Worte zusammenzureimen. Leider waren dabei fast alle seiner trockenen Bemerkungen an mir vorbeigegangen, aber jetzt, nach vier Jahren, bekam ich so gut wie alles mit, was er sagte.
»Die werde ich mir wohl ersparen«, sagte ich.
»Aber Sie könnten sich in einer der Buden die kanadischen Farben ins Gesicht schminken lassen. Dann fallen Sie nicht so auf.«
Die anderen kicherten.
»Tätowieren wäre auch nicht schlecht. Das tut nicht so weh.«
»Sehr lustig.«
Ein unschuldiges Lächeln, hochgezogene Schultern und nach oben gestreckte Handflächen. Was wollen Sie denn? Pelletier lehnte sich zurück, hob seine fünf Zentimeter lange, filterlose Zigarette mit nikotingelben Fingern an den Mund und nahm einen tiefen Zug. Irgend jemand hat mir erzählt, daß Pelletier in seinem ganzen, 64jährigen Leben die Provinz Quebec noch nie verlassen habe.
»Heute liegen drei Autopsien an«, begann LaManche und verteilte die Listen mit den zu bearbeitenden Fällen.
»Die Ruhe vor dem Feiertag«, sagte Pelletier und nahm seine Kopie zur Hand. Ich hörte, wie seine dritten Zähne beim Sprechen leise klickten. »Aber das wird sich bestimmt noch ändern.«
»Ja«, stimmte LaManche zu und griff nach seinem roten Filzschreiber. »Wenigstens ist es nicht mehr so heiß. Das beruhigt die Gemüter hoffentlich ein wenig.«
Mit seiner melancholischen Stimme schilderte er uns den Hintergrund eines jeden der drei Fälle. Ein Selbstmord durch Kohlenmonoxid. Ein alter Mann, der in seinem Bett tot aufgefunden wurde. Ein Baby, das jemand in den Park geworfen hatte.
»Der Selbstmord scheint mir eine ziemlich klare Sache zu sein«, sagte LaManche, während er den Polizeibericht überflog. »Weißer… 27 Jahre alt… wurde in seiner eigenen Garage hinter dem Steuer seines Wagens gefunden… Kraftstofftank leer, Schlüssel im Zündschloß, Zündung eingeschaltet.«
Er legte etliche Polaroids auf den Tisch, auf denen ein dunkelblauer Ford in einer kleinen Garage zu sehen war. Ein biegsamer Luftschlauch, wie man ihn zur Entlüftung von Wäschetrocknern verwendet, führte vom Auspuff ins hintere rechte Fenster des Wagens. LaManche las weiter.
»Bereits wegen Depressionen in Behandlung gewesen… Note d’adieu.« Er sah Natalie an. »Dr. Ayers?«
Natalie nickte und ließ sich von LaManche die Unterlagen geben. LaManche
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