Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Bonbonpapier vom böigen Wind durch die Luft gewirbelt.
Dieses Stück Papier bist du, Brennan, sagte ich mir voller Bitterkeit. Auch du taumelst ziellos durch dein Leben, und da willst du dich auch noch in das anderer Leute einmischen. Du hast nicht das geringste über St. Jacques herausgefunden. Hast keine Ahnung, wer dir den Schädel in den Garten plaziert hat. Gabbys Irrer läuft noch immer frei herum, deine Tochter macht ihren Abschluß nicht und Claudel wird sich höchstwahrscheinlich offiziell über dich beschweren. Und dann spuken dir noch fünf tote Frauen im Kopf herum, denen bei der Geschwindigkeit, mit der du deine Nachforschungen betreibst, bestimmt bald Nummer sechs und sieben folgen werden.
Ich sah auf die Uhr. Es war viertel nach zwei. Ich hielt es einfach nicht mehr im Büro aus. Ich mußte unbedingt etwas tun.
Aber was?
Als ich einen Blick auf Ryans Bericht warf, kam mir eine Idee.
Die werden stinksauer auf dich sein, sagte ich mir.
Stimmt.
Ich sah noch einmal auf den Bericht. Da stand die Adresse. Dann holte ich die im Computer abgespeicherte Tabelle auf den Bildschirm. Da waren sie alle, zusammen mit ihren Telefonnummern.
Geh lieber ins Fitness-Studio und strample dir den Frust von der Seele.
Ja.
Eigenwilliges Detektivspielen wird dich bei Claudel bestimmt nicht beliebter machen.
Nein.
Und außerdem wirst du vielleicht Ryans Unterstützung verlieren.
Kann sein.
Böse Sache.
Ich machte einen Ausdruck von meiner Tabelle, wählte eine der Nummern aus und griff zum Telefon. Nach dem dritten Klingeln hob ein Mann ab, der zwar erstaunt über meinen Anruf war, aber schließlich einwilligte, mich zu empfangen. Ich schnappte mir meine Handtasche und flüchtete aus dem Büro hinaus in die Sommersonne.
Es war wieder heiß und feucht. Der Dunst brach das Sonnenlicht und zerstreute es wie eine weiße Wolke. Ich fuhr zu dem Haus, in dem Francine Morisette-Champoux zusammen mit ihrem Mann gewohnt hatte. Der Grund, weshalb ich mich dafür entschieden hatte, war einzig und allein der, daß es nicht weit von meiner eigenen Wohnung entfernt lag. Wenn sich dieses Treffen als ein Reinfall herausstellen sollte, dann war ich wenigstens schon auf dem Weg nach Hause.
Ich fand die Straße ohne Mühe und parkte meinen Wagen vor einem der Ziegelhäuser, die alle eiserne Balkone, Kellergaragen und bunt lackierte Eingangstüren hatten. Das Stadtviertel hatte, im Gegensatz zu allen anderen in Montreal, keinen eigenen Namen.
Im Rahmen der Stadterneuerung hatte man hier ein ehemaliges Gelände der kanadischen Eisenbahn in ein Wohngebiet umgewandelt. Es war der Stadtmitte zu nahe, um eine Vorstadt zu sein, aber zu weit von ihr entfernt, um als eines der schicken Innenstadtviertel zu gelten. Bei allen Annehmlichkeiten des Wohnens fehlte ihm irgendwie das eigene Flair.
Ich klingelte und wartete. Vor dem Haus roch es nach frisch gemähtem Gras und schon länger nicht mehr geleerten Mülltonnen. Zwei Häuser weiter spritzte ein Rasensprenger mit klickenden Geräuschen Wasser über einen handtuchgroßen Garten. Irgendwo sprang ein Kompressor an, dessen Geräusch das des Rasensprengers übertönte.
Ein blonder Mann mit Geheimratsecken öffnete mir die Tür. Er hatte ein rundliches Gesicht und eine Stupsnase und war auf dem besten Weg, dick zu werden. Irgendwie kam er mir so vor wie das Kind von der Zwiebackpackung, das erwachsen geworden war. Obwohl es über 30 Grad hatte, trug er Jeans und ein Sweatshirt, auf dem Calgary Stampede 1985 stand.
»Monsieur Champoux, ich bin…«
Er ignorierte meinen Dienstausweis und trat einen Schritt zurück, um mich eintreten zu lassen. Ich folgte ihm einen engen Gang entlang in ein nicht allzu geräumiges Wohnzimmer. An einer Wand befanden sich mehrere Aquarien, die den Raum in ein unheimliches, bläuliches Licht tauchten. Am anderen Ende des Raumes konnte ich eine Arbeitsfläche mit kleinen Netzen, Fischfutter und Gegenständen zur Pflege der Aquarien erkennen. Durch die offenen Jalousietüren konnte ich hinaus in die Küche sehen, die mir von den Tatortphotos her vertraut war. Rasch sah ich woanders hin.
Monsieur Champoux machte einen Platz auf dem Sofa frei und bedeutete mir, daß ich mich setzen sollte. Er selbst ließ sich in einen Sessel sinken.
»Monsieur Champoux«, begann ich noch einmal. »Ich bin Dr. Brennan vom Laboratoire de Médecine Légale.«
Ich ließ es dabei bewenden und hoffte, daß er mich nicht nach meiner genauen Rolle bei der Untersuchung des Mordes an
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