Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
sie ignoriert hatte, daß er ihr das Gefühl gegeben hatte, sie sei nicht wichtig für ihn. So einfach war das. Am Vorabend ihres Todes hatte er nicht mit ihr sprechen wollen. Er hatte sich umgedreht und war eingeschlafen, und am nächsten Morgen hatte er sich nicht von ihr verabschiedet. Das würde er nun nie mehr nachholen können.
Ich fuhr die Rue St. Marc nach Norden in eine dunkle Unterführung hinein. Würden meine Nachforschungen überhaupt zu etwas anderem gut sein als dazu, schlimme Erinnerungen wieder wachzurufen und Menschen damit wehzutun?
Konnte ich denn wirklich mehr herausfinden als ein Heer von Kriminalbeamten? Waren meine Bemühungen am Ende nur eine Art persönlicher Kreuzzug, um Claudel zu beweisen, daß er unrecht hatte?
»Nein!«
Ich schlug mit den Handballen aufs Lenkrad. Nein, verdammt noch mal, dachte ich. Darum geht es mir nicht. Aber niemand außer mir ist nun einmal davon überzeugt, daß ein und derselbe Täter alle diese Frauen auf dem Gewissen hat. Er wird noch mehr töten, wenn ich ihn nicht daran hindere. Und das kann ich nur tun, wenn ich weiteres Material gegen ihn zusammentrage.
Ich fuhr aus dem Tunnel wieder ins Sonnenlicht, aber anstatt nach Osten abzubiegen und nach Hause zu fahren, überquerte ich die Rue Ste. Catherine, drehte an der Avenue du Fort um und fuhr nach Westen auf den Highway 20, den die Einheimischen »Zwanzig und zwei« nennen. Woher der Zweier kommt, konnte mir bisher noch niemand erklären.
Es war halb vier, und am Turcot-Autobahnkreuz war bereits ein Stau. Schlechtes Timing. Ungeduldig trommelte ich mit den Händen auf dem Lenkrad herum.
Eine Dreiviertelstunde später war ich bei Geneviève Trottier, die im Garten des Hauses, das sie mit ihrer Tochter bewohnt hatte, gerade beim Unkrautjäten war. Als ich in die Einfahrt fuhr, blickte sie auf und sah mir zu, wie ich quer über den Rasen auf sie zukam.
»Oui?« fragte sie freundlich, während sie immer noch neben den Tomaten kauerte.
Sie trug leuchtend gelbe Shorts und ein Bikinioberteil, das für ihren kleinen Busen viel zu groß war. Ihr Körper glänzte vom Schweiß, und die Haare klebten ihr feucht an der Stirn. Sie war jünger, als ich erwartet hatte.
Nachdem ich ihr erklärt hatte, wer ich war und weshalb ich hier war, verwandelte sich ihre Freundlichkeit in Bedrücktheit.
Sie zögerte einen Augenblick, dann legte sie ihre Harke beiseite, erhob sich und wischte sich die Erde von den Händen.
»Wir gehen besser hinein«, sagte sie und senkte den Blick. Wie Champoux auch, zweifelte sie keinen Augenblick an meiner Berechtigung, ihr Fragen zu stellen.
Während ich ihr quer durch den Garten hinüber zum Haus folgte, grauste mir vor dem Gespräch, das ich gleich mit ihr fuhren würde. Ich sah, daß sie das Bikinioberteil hinten nur lose zusammengeknotet hatte. An ihren Unterschenkeln und Füßen klebten kleine, grüne Grashalme.
In der Küche glänzte die Nachmittagssonne auf dem blitzsauberen Porzellan und dem liebevoll polierten Holz der Möbel, deren Griffe an Schubladen und Türen gelb lackiert waren. Vor den Fenstern mit ihren gelben Baumwollvorhängen standen Blumen in gelben Übertöpfen.
»Ich habe gerade etwas Limonade gemacht. Wollen sie auch welche?« Ohne die Antwort auf ihre Frage abzuwarten, nahm Geneviève Trottier zwei Gläser aus dem Schrank und stellte sie vor sich auf die Spüle. Offenbar vermittelte ihr diese vertraute Tätigkeit ein Gefühl von Sicherheit.
»Sehr gerne. Vielen Dank.«
Ich setzte mich an einen sauber gescheuerten Holztisch und sah ihr zu, wie sie Eiswürfel aus einer Plastikschale drückte und in unsere Gläser tat, die sie dann mit Limonade füllte. Als sie sich mir gegenüber an den Tisch setzte, vermied sie Blickkontakt.
»Es fällt mir schwer, über Chantale zu sprechen«, sagte sie und starrte auf ihre Limonade.
»Das verstehe ich sehr gut. Und es tut mir schrecklich leid, daß Sie sie verloren haben. Wie kommen Sie damit zurecht?«
»Mal besser und mal weniger gut.«
Sie faltete die Hände und setzte sich gerade hin, wobei ihre schmalen Schultern das Bikinioberteil ein wenig anhoben.
»Sind Sie hier, um mir etwas mitzuteilen? Gibt es etwas Neues über Chantales Tod?«
»Nein, Madame Trottier. Ich habe Ihnen nicht einmal bestimmte Fragen zu stellen. Aber ich dachte, daß Sie sich vielleicht an etwas erinnern, das Ihnen früher nicht so wichtig schien.«
Ihre Augen waren immer noch an das Glas mit der Limonade geheftet. Draußen bellte ein
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