Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
der Station Guy-Concordia bis Papineau. Die orange Linie führte in einem Bogen um den Berg herum und fuhr dann in Nord-Süd-Richtung an seinem östlichen Abhang entlang. Dann lief sie kurze Zeit nach Westen, kreuzte sich mit der grünen Linie und bog schließlich wieder in Nord-Süd-Richtung ab. Die gelbe Linie führte unter dem Fluß hindurch und hielt an der Île Sainte Hélène und in Longueuil am südlichen Ufer. An der Station Berri-UQAM, die als wichtiger Umsteigebahnhof durch einen großen weißen Punkt markiert wurde, kreuzten sich alle drei Linien.
Der Zug rauschte durch die unterirdische Röhre. Ich zählte immer wieder die Stationen, die ich noch fahren mußte. Jetzt waren es noch sieben. Dann sechs.
Zählen kann zur Manie werden, Brennan. Wie Waschzwang.
Mit den Augen fuhr ich auf dem Plan die orange Linie in Richtung Norden entlang und stellte mir vor, wie es an den Stationen über der Erde aussah. Berri-UQAM. Sherbrooke. Mount Royal und schließlich Jean-Talon. Dort in der Nähe hatte Isabelle Gagnon gelebt.
Tatsächlich?
Ich suchte auf dem Plan die Gegend, in der Margaret Adkins gewohnt hatte. Es war die grüne Linie. Welche Station? Pie IX. Und wieviele Stationen war die von Berri-UQAM entfernt? Sechs in östlicher Richtung.
Ich zählte die Stationen, die Isabelle Gagnons Metro-Bahnhof von Berri-UQAM trennten. Auch sechs. Auf der orangen Linie.
Meine Nackenhaare begannen sich zu sträuben.
Morisette-Champoux. Bahnhof Georges-Vanier. Auf der orangen Linie. Sechs Stationen westlich von Berri-UQAM.
Großer Gott.
Was war mit Trottier? Nein, die U-Bahn ging nicht nach Sainte Anne-de-Bellevue hinaus.
Wie stand es mit Grace Damas? In der Parkvorstadt gab es zwei Bahnhöfe. Laurier und Rosement. Drei, beziehungsweise vier Stationen von Berri-UQAM entfernt.
Ich starrte auf den Plan. Drei der Opfer wohnten genau sechs Metrostationen vom Bahnhof Berri-UQAM entfernt. War das ein Zufall?
»Papineau«, sagte eine Stimme aus dem Lautsprecher. Ich nahm meine Sachen und stieg aus.
Als ich zehn Minuten später meine Bürotür aufschloß, klingelte das Telefon.
»Dr. Brennan.«
»Was, zum Teufel, haben Sie jetzt schon wieder gemacht, Brennan?«
»Guten Morgen, Ryan, kann ich Ihnen vielleicht irgendwie behilflich sein?«
»Claudel macht mir Ihretwegen die Hölle heiß. Er behauptet, Sie hätten die Familien der Opfer belästigt.«
Er wartete auf eine Antwort von mir, die ich ihm aber nicht gab.
»Ich habe Sie bisher immer in Schutz genommen, Brennan. Und zwar, weil ich Sie respektiere. Aber langsam gehen mir Ihre Eigenmächtigkeiten zu weit. Sie bringen mir meine gesamte Untersuchung durcheinander.«
»Ich habe nur ein paar Fragen gestellt. Das ist doch nicht verboten.«
»Aber Sie haben niemanden davon unterrichtet. Sie haben sich nicht mit uns abgestimmt, sondern sind einfach losgefahren und haben bei den Leuten an die Tür geklopft.« Ich konnte hören, wie Ryan durch die Nase ein- und ausatmete. Es war ein angespannt klingendes Geräusch.
»Ich habe immerhin vorher angerufen«, sagte ich, auch wenn das im Fall von Geneviève Trottier nicht der Wahrheit entsprach.
»Sie sind keine Polizeibeamtin.«
»Aber die Leute hatten nichts dagegen, daß ich mit ihnen rede.«
»Halten Sie sich eigentlich für Mickey Spillane oder was? Zeugen zu befragen ist nicht Ihr Job.«
»Sie sind ja richtiggehend belesen, Ryan.«
»Wissen Sie was, Brennan? Sie kotzen mich an!«
Im Hintergrund hörte ich die Geräusche von Ryans Büro.
»Hören Sie«, sagte Ryan mit sehr viel kontrollierterer Stimme als vorhin. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich halte nach wie vor große Stücke auf Sie. Aber das hier ist kein Spiel. Diese Leute haben etwas besseres verdient.« Seine Stimme klang hart wie Granit.
»Ja.«
»Trottier ist mein Fall.«
»Und was tun Sie bitteschön in Ihrem Fall?«
»Bren –«
»Und was geschieht in den anderen? Wie kommt man da voran?«
Langsam kam ich richtig in Fahrt.
»Diese Fälle haben nicht gerade oberste Priorität, Ryan. Francine Morisette-Champoux wurde vor achtzehn Monaten getötet, Chantale Trottier vor acht. Ich habe nun mal die bizarre Vorstellung, daß ihr Mörder hinter Gitter gehört. Also kümmere ich mich um die Fälle. Ich stelle ein paar Fragen. Und was geschieht? Man sagt mir, ich solle mich gefälligst um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Und nur weil ich Monsieur Claudel alles andere als sympathisch bin, läßt er die Fälle einfach links liegen, bis
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