Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
gedacht. Ich hatte genügend Kaffee getrunken, um ein ganzes Aquarium zu füllen, hatte in meinem Kopf endlose Listen aufgestellt und unzählige Briefe verfaßt, die ich nie wirklich zu Papier bringen würde und hatte mir zu vielen der Passanten die irrwitzigsten Lebensgeschichten einfallen lassen. Unzählige Nutten und Freier waren im Hotel verschwunden und wieder herausgekommen, aber von Jewel Tambeaux fehlte noch immer jede Spur.
Ich stand auf, streckte meine Glieder und überlegte mir kurzzeitig, ob ich meinen vom vielen Sitzen eingeschlafenen Po massieren sollte, was ich dann aber doch besser sein ließ. Ich schwor mir, nie wieder eine halbe Nacht auf einem Betonklotz zu sitzen und auf eine Nutte zu warten, die weiß Gott wo sein konnte.
Gerade als ich wieder zu meinem Wagen gehen wollte, hielt ein weißer Pontiac-Kombi auf der gegenüberliegenden Straßenseite und ließ eine Frau aussteigen, deren orangerote Haare ich sofort erkannte. Es war Jewel, die dasselbe enge Top trug wie bei unserer letzten Begegnung.
Sie schlug die Beifahrertür zu und beugte sich ans offene Fenster, um dem Fahrer etwas zu sagen. Kurz darauf fuhr der Wagen los, und Jewel setzte sich neben zwei Frauen, die auf den Eingangsstufen zum Hotel hockten. Im flackernden Neonlicht sahen sie aus wie drei Hausfrauen, die vor einem Hauseingang irgendwo in der Vorstadt ein Schwätzchen hielten. Der leichte Nachtwind trug ihr Lachen zu mir herüber. Nach einer Weile stand Jewel auf, zog ihren Minirock straff und ging den Gehsteig entlang.
Jetzt, wo die abenteuerlustigen Normalbürger auf dem Nachhauseweg waren und die Aasgeier erst langsam aus ihren Schlupflöchern kamen, war hier merklich weniger los. Jewel schlenderte langsam dahin und schwang ihre Hüften in ihrem ganz eigenen Rhythmus. Ich eilte über die Straße und rannte ihr hinterher.
»Jewel?«
Sie drehte sich um, ihr Gesicht ein lächelndes Fragezeichen. Mich hatte sie offenbar am allerwenigsten erwartet. Sie musterte mich mit einem verwirrten und ein wenig enttäuschten Blick, und ich wartete darauf, daß sie mich erkannte.
»Margaret Mead«, sagte sie schließlich.
Ich lächelte. »Tempe Brennan.«
»Machst du hier Recherchen für ein neues Buch?« fragte sie und hob Zeige- und Mittelfinger ihrer beiden Hände wie Anführungszeichen in die Luft. »Die mit dem Hintern wackeln. Mein Leben mit den Frauen vom Strich.« Wieder fiel mir ihr weicher Südstaatenakzent mit einem Hauch von Louisiana-Slang auf.
»Toller Titel«, lachte ich. »Verkauft sich bestimmt gut. Darf ich Sie ein Stück begleiten?«
Sie zuckte die Achseln und atmete hörbar aus. Dann drehte sie sich um und setzte sich hüftschwingend wieder in Bewegung. Ich ging neben ihr her.
»Suchst du noch immer deine Freundin, chère?«
»Nein, heute abend habe ich Sie gesucht. Ich habe allerdings nicht gedacht, daß Sie erst so spät kommen würden.«
»Dieser Kindergarten hat rund um die Uhr geöffnet, Süße. Ich muß mich ja schließlich um mein Geschäft kümmern.«
»Natürlich.«
Ein paar Schritte lang gingen wir schweigend nebeneinander her, sie in ihren Stöckel- und ich in meinen Turnschuhen.
»Ich habe die Suche nach Gabby aufgegeben. Sie will nicht, daß ich sie finde. Vor etwa einer Woche kam sie zu mir, aber inzwischen ist sie schon wieder verschwunden. Sie kommt und geht, wann sie will.«
Ich hatte auf eine Reaktion von Jewel gehofft, aber sie zuckte einfach mit den Schultern und sagte nichts. Ihre Haare leuchteten orange im Licht der Straßenlaternen. Eine nach der anderen wurden die Neonreklamen abgeschaltet, und die letzten Kneipen schlossen ihre Türen, hinter denen sie den Geruch nach Zigarettenrauch und abgestandenem Bier bis zum nächsten Abend konservierten.
»Ich würde gerne mit Julie reden«, sagte ich.
Jewel blieb stehen und sah mich an. Ihr Gesicht sah müde aus, als hätte die Nacht ihr alle Kraft ausgesaugt. Aus dem Ausschnitt ihres Tops holte sie ein Päckchen Players und zündete sich eine an.
»Du solltest besser heimgehen, Kleine.«
»Warum sagen Sie das?«
»Weil du immer noch auf Killerjagd bist.«
Jewel Tambeaux war nicht dumm.
»Ich glaube, daß einer von diesen Killern sich hier herumtreibt, Jewel.«
»Und du glaubst, daß es der Cowboy ist, der Julie das Nachthemd anziehen läßt.«
»Zumindest würde ich mich gerne mal mit ihm unterhalten.«
Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette, klopfte mit einem ihrer langen Fingernägel dagegen und sah zu, wie kleine,
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