Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
hören, wie bei J. S. im Hintergrund die Musik aus Phantom der Oper lief.
»Wenn so ein Mann sich Bilder zeichnet oder eine Puppe anfertigt, bedeutet das dann, daß er nicht töten wird, J. S.?«
»Möglich, aber auch da kann man nicht sicher sein, daß sich sein Verhalten nicht aus irgendeinem Grund urplötzlich verändert und er die Grenze zur Gewalt überschreitet. An einem Tag reicht ihm noch ein schmutziges Bild, am nächsten will er mehr.«
»Wäre es möglich, daß ein Mann beides tut?«
»Was meinst du damit?«
»Daß er zwischen beiden Verhaltensweisen hin und her pendelt? Daß er eine Frau tötet und dann eine andere bloß verfolgt und belästigt?«
»Klar. Zum Beispiel kann das Verhalten des Opfers das des Täters entscheidend beeinflussen. Wenn die Frau ihn zurückweist oder ihn beleidigt oder etwas Falsches sagt, schlägt er möglicherweise eine vollkommen andere Richtung ein. Die Frau weiß oft gar nicht, daß sie der Auslöser dafür war. Du darfst nicht vergessen, daß die meisten Serienmörder ihre Opfer bis kurz vor dem Mord gar nicht gekannt haben. Trotzdem haben sie in ihren Phantasien bereits eine wichtige Rolle gespielt. Viele Täter weisen Frauen auch unterschiedliche Rollen zu. Sie lieben ihre Ehefrau, andere Frauen aber töten sie. Die eine Fremde wird als Opfer, die andere als Freundin angesehen.«
»Wenn also jemand zu töten anfängt, kann es sein, daß er bei einer anderen Gelegenheit zu seinen früheren, weniger gewalttätigen Praktiken zurückkehrt?«
»Durchaus.«
»Und andersherum kann jemand, der Frauen vermeintlich harmlos belästigt, in Wirklichkeit sehr viel gefährlicher sein.«
»Unbedingt.«
»Jemand, der eine Frau ständig anruft, sie verfolgt und ihr grausame Zeichnungen schickt, ist also nicht zwangsläufig harmlos, auch wenn er normalerweise auf Distanz bleibt?«
»Sprichst du von St. Jacques?«
Tat ich das?
»Klingt es denn nach ihm?«
»Ich dachte bloß, daß wir die ganze Zeit über den Burschen sprechen, dessen hübsche, kleine Hochzeitssuite ihr da geknackt habt. Ganz gleich, wie er auch heißen mag.«
Sag ihm, was du auf dem Herzen hast, Brennan.
Open up your mind, let the fantasy unwind … hörte ich im Hintergrund.
»J. S. ich… Diese Geschichte geht mich persönlich an.«
»Wie meinst du das?«
Ich erzählte ihm alles. Von Gabby, ihrer Angst, ihrem Verschwinden. Und von meiner Wut auf sie und den Sorgen, die ich mir jetzt um sie machte.
»Verdammt, Brennan, wie konntest du denn nur in so etwas hineinschlittern? Was du da erzählst, klingt gar nicht gut. Der Kerl, der Gabby verfolgt, könnte gut und gerne St. Jacques sein, muß es aber nicht. Er verfolgt Frauen. St. Jacques tut das auch. Er zeichnet Bilder von ausgeweideten Frauen, hat kein normales Sexualleben und besitzt ein Messer. St. Jacques, oder wie immer dieser Irre heißt, bringt Frauen um, schlitzt sie auf und verstümmelt sie. Wie würdest du das beurteilen?«
Turn your face away from the garish light of day…
»Wann ist ihr dieser Typ zum ersten Mal aufgefallen?« fragte J. S.
»Das weiß ich nicht.«
»Bevor du diese Morde untersucht hast oder danach?«
»Das weiß ich auch nicht.«
»Was weißt du denn überhaupt von ihm?«
»Nicht viel. Er treibt sich mit Nutten herum, die er dafür bezahlt, daß sie sich von ihm mitgebrachte Unterwäsche anziehen und hat immer ein Messer dabei. Die meisten Prostituierten wollen nichts mit ihm zu tun haben.«
»Klingt das beruhigend?«
»Nein.«
»Tempe, ich möchte, daß du diese Sache den Polizisten erzählst, mit denen du zusammenarbeitest. Die sollen ihr nachgehen. Vielleicht ist ja auch gar nichts dran, du sagst ja selbst, daß Gabby völlig unzuverlässig ist. Vielleicht ist sie einfach weggegangen. Aber sie ist deine Freundin. Und du wurdest bedroht. Denk an den Totenschädel. Und an den Wagen, der dir gefolgt ist.«
»Vielleicht hast du recht.«
»Gabby hat bei dir gewohnt, und jetzt ist sie verschwunden. Das wäre für mich als Polizist Grund genug, die Angelegenheit zu untersuchen.«
»Okay. Claudel ist der Spezialist für solche Fälle. Er ist auch Dummy Man auf der Spur.«
»Wer ist Dummy Man?«
»Ein Verrückter, der hier seit Jahren sein Unwesen treibt. Er bricht nachts in Wohnungen ein, stopft Unterwäsche mit Kleidung aus und sticht dann darauf ein.«
»Wenn er das seit Jahren macht, kann er so dumm nicht sein.«
»Das hast du falsch verstanden. Er heißt nicht deshalb Dummy Man, weil er dumm ist, sondern weil
Weitere Kostenlose Bücher