Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Seiten des Gesichts herunterhingen, kleine weiße Schuppen und einen unregelmäßig gezogenen Scheitel.
»Hallo Julie«, sagte Jewel.
Das Gesicht blickte nicht auf.
Jewel schnalzte abermals mit der Zunge und setzte sich an den Tisch. Ich tat dasselbe und war froh, damit den Blicken der Männer an der Bar zu entkommen. Die Tischplatte war feucht und klebrig. Von was, wollte ich gar nicht erst wissen. Jewel stützte einen Ellbogen auf den Rand und zuckte mit einer angeekelten Geste zurück. Sie kramte eine Zigarette aus ihrem Päckchen, zündete sie an und blies den Rauch nach oben.
»Julie.« Ihre Stimme klang schärfer.
Julie holte Luft und hob den Kopf.
»Julie?« wiederholte sie fragend ihren eigenen Namen und klang dabei wie jemand, der aus einem tiefen Schlaf geweckt wurde.
Mein Herz hörte für einen Sekundenbruchteil auf zu schlagen, und ich biß mir auf die Unterlippe.
Großer Gott!
Ich sah in das Gesicht eines Mädchens, das nicht älter als fünfzehn Jahre sein konnte. Die Haut war blaß und die Lippen aufgesprungen, und die tief in ihren Höhlen liegenden Augen mit den dunklen Ringen darunter blickten an uns vorbei ins Leere.
Julie schien eine ganze Weile zu brauchen, bis sie uns wahrnahm. Sie machte den Eindruck, als wäre das Erkennen von Jewel ein äußerst komplizierter und langwieriger Prozeß.
»Kann ich auch eine haben, Jewel?« fragte sie schließlich auf Englisch und streckte eine zitternde Hand aus. Sogar in dem gedämpften Licht der Bar konnte ich in der Beuge ihres Ellenbogens blaue Flecken erkennen, und die Venen an ihren Handgelenken sahen aus, als kröchen dünne, graue Würmer darüber hinweg.
Jewel zündete eine Zigarette an und gab sie Julie, die den Rauch tief in die Lungen sog und dann nach oben ausblies, als wolle sie damit Jewel imitieren.
»Ja. Oh ja«, sagte sie. An ihrer Unterlippe klebte ein kleines Stückchen Zigarettenpapier.
Mit geschlossenen Augen nahm sie noch einen Zug und schien völlig im Ritual des Rauchens aufzugehen. Wir warteten geduldig. Zwei Dinge auf einmal zu tun war offenbar keine von Julies Stärken.
Jewel sah mich an, aber ihre Augen verrieten nicht, was in ihr vorging. Ich überließ Jewel die Führung des Gesprächs.
»Hast du gearbeitet, chère?« fragte sie Julie.
»Ein bißchen.« Das Mädchen nahm einen weiteren, tiefen Zug und blies zwei Rauchstränge durch die Nase aus, die sich sofort in silbrige, vom rötlichen Licht beschienene Wolken auflösten.
Jewel und ich warteten schweigend, bis Julie fertig geraucht hatte. Sie schien sich überhaupt nicht zu fragen, weshalb wir hier waren. Vermutlich fragte sie sich überhaupt nur selten etwas.
Nachdem sie schließlich den Stummel im Aschenbecher ausgedrückt hatte, sah Julie uns wieder an. Offenbar überlegte sie, ob sie unserer Anwesenheit vielleicht etwas Gutes abgewinnen könnte.
»Ich habe heute noch nichts gegessen«, sagte sie mit einer Stimme, die ebenso leer war wie ihre Augen.
Ich sah hinüber zu Jewel. Sie zuckte mit den Achseln und steckte sich noch eine Zigarette an. Ich blickte mich um, konnte aber weder Speisekarten noch eine Tafel entdecken, auf der etwas zu essen angeschrieben stand.
»Es gibt Hamburger«, sagte Julie.
»Möchten Sie vielleicht einen Hamburger haben?« fragte ich sie und überlegte mir, wieviel Geld ich dabei hatte.
»Banco macht sie.«
»Okay.«
Julie beugte sich aus der Nische und rief, an den Barkeeper gewandt: »Banco, kannst du mir einen Burger machen? Einen mit Käse?« Sie klang wie eine Sechsjährige.
»Du hast keinen Kredit mehr, Julie.«
»Ich zahle«, sagte ich und streckte den Kopf aus der Nische.
Banco lehnte an der Spüle und hatte die Arme vor der Brust gekreuzt. Sie sahen aus wie die Zweige eines Affenbrotbaums.
»Einen?« fragte er und stieß sich ab.
Ich sah hinüber zu Jewel, die den Kopf schüttelte.
»Ja, einen.«
Ich drehte mich wieder zurück in die Nische. Julie hockte zusammengesunken auf der Bank und hielt ihr Glas mit beiden Händen. Ihr Unterkiefer hing nach unten, so daß ihr Mund halb offen stand. Das Stück Zigarettenpapier klebte noch immer an ihrer Unterlippe. Am liebsten hätte ich es weggepickt. Am Tresen fing eine Mikrowelle zu summen an.
Es dauerte nicht lange, bis sie viermal piepste und Banco den Cheeseburger brachte, der dampfend in einer Verpackung aus durchsichtigem Plastik lag. Er stellte ihn Julie hin und sah dann Jewel und mich fragend an. Ich bestellte ein Sodawasser. Jewel schüttelte den
Weitere Kostenlose Bücher