Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
wohl nicht allzu schwer sein, ihr zu folgen, dachte ich. Falsch. Viel schneller als ich dachte, war sie um die nächste Ecke gebogen, und ich mußte mich sputen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.
Auf verschlungenen Wegen, die über leere Grundstücke und durch winzige Hintergäßchen führten, steuerte Julie ein heruntergekommenes Haus in der Rue St. Dominique an, wo sie die Treppe hinauf ging, einen Schüssel aus ihrer Tasche fischte und hinter einer Tür mit abgeblättertem Lack verschwand. Ich notierte mir die Hausnummer und ging.
Okay, Brennan. Zeit, ins Bett zu gehen. Zwanzig Minuten später war ich daheim.
Als ich, mit Birdie auf meinen Knien, unter der Bettdecke lag, legte ich mir einen Plan zurecht. Dabei wußte ich genau, was ich nicht tun durfte: Ryan anrufen, Julie verschrecken oder den Irren mit dem Messer und dem Nachthemd warnen. Ich mußte herausfinden, ob er St. Jacques war, und wo er wohnte oder seinen Unterschlupf hatte. Ich brauchte etwas Konkretes, bevor ich ihm ein Sondereinsatzkommando der Polizei auf den Hals hetzte. Geht rein und schnappt ihn euch, Jungs.
Es klang so einfach.
32
Den ganzen Mittwoch über befand ich mich wie in einem Nebel der Erschöpfung. Eigentlich hatte ich nicht ins Labor gehen wollen, aber LaManche hatte angerufen und mich gebeten, einen dringend benötigten Bericht zu erstellen. Da ich schon mal in meinem Büro war, blieb ich auch dort. Zögernd und gereizt schloß ich ein paar alte Fälle endgültig ab, damit Denis die Beweisstücke vernichten konnte. Ich haßte diese Arbeit und hatte sie deshalb seit Monaten vor mich her geschoben. Bis vier Uhr hielt ich aus, dann fuhr ich heim, aß früh zu Abend und lag nach einem ausgiebigen Vollbad noch vor acht Uhr im Bett.
Als ich am Donnerstagmorgen erwachte, erkannte ich an dem ins Schlafzimmer strömenden Sonnenlicht, daß es schon spät war. Ich streckte mich, rollte auf die andere Seite und sah auf den Wecker. Es war fünf vor halb elf. Gut. Nun hatte ich wenigstens etwas Schlaf wieder aufgeholt. Das war Stufe eins meines Plans. Stufe zwei war, daß ich nicht zur Arbeit gehen würde.
Während ich langsam aufstand, ging ich im Kopf die Dinge durch, die ich tun wollte. Seit ich die Augen aufgeschlagen hatte, fühlte ich mich unter Strom wie eine Marathonläuferin vor dem Start. Langsam, Brennan. Geh die Sache ruhig und überlegt an.
Ich ging in die Küche, machte mir Kaffee und las die Gazette. Tausende flüchteten aus Ruanda. In Meinungsumfragen lag Parizeaus Parti Québecois zehn Punkte vor Premierminister Johnsons Liberalen. Die Expos hatten den ersten Tabellenplatz eingebüßt, und die nationalen Bauarbeiterferien hatten begonnen. Kein Witz. Ich frage mich immer, was für ein Genie sich wohl diesen Schildbürgerstreich hat einfallen lassen. In einem Land, dessen Klima gerade mal vier bis fünf Monate Zeit zum Bauen läßt, bleiben zwei Wochen im Juli alle Baustellen geschlossen, weil die Arbeiter alle auf einmal in Ferien gehen.
Ich trank noch eine zweite Tasse Kaffee und las die Zeitung zu Ende. So weit, so gut. Auf zu Phase drei. Hirnlose Aktivität. Ich zog Turnhose und T-Shirt an und fuhr ins Fitness-Studio, wo ich eine halbe Stunde Treppen stieg und eine Runde mit den Gewichten absolvierte. Auf dem Heimweg schaute ich beim Supermarkt vorbei und kaufte genügend Lebensmittel, um eine mittlere Kleinstadt abzufüttern. Zu Hause verbrachte ich dann den Nachmittag mit Bodenwischen, Abstauben, Spüle scheuern und Staubsaugen. Ich dachte sogar daran, den Kühlschrank zu reinigen, entschied mich aber doch dagegen. Das hätte dann doch zu weit geführt.
Um sieben Uhr abends erlahmte mein Putzfimmel. Die Wohnung roch nach Reinigungsmittel und Möbelpolitur, und auf dem Eßtisch lagen eine Reihe von Pullovern zum Trocknen. Außerdem hatte ich jetzt genügend saubere Unterhosen, um einen Monat damit auszukommen. Ich selbst jedoch sah aus und roch, als käme ich gerade von einem vierwöchigen Trekkingurlaub zurück. Langsam mußte ich mich fertig machen.
Den ganzen Tag über war es schwülwarm gewesen, und der Abend versprach wenig Besserung. Also zog ich ein Paar Shorts, ein T-Shirt und abgetragene Nike-Turnschuhe an. Damit sah ich nicht wie ein Profi aus, aber wie eine Frau, die auf der Suche nach irgendwelchen Drogen oder einem Gefährten für die Nacht oder beidem durch die Straßen der Main streift. Als ich Richtung Boulevard St. Laurent fuhr, ging ich im Kopf noch einmal meinen Plan durch. Julie finden.
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