Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Zeiten?« Ich konnte nicht anders, ich mußte weiterfragen. Jewel warf mir einen Blick zu, der wohl besagen sollte, »okay, jetzt ist es dein Spiel«.
»Was soll das, Jewel?« fragte Julie. »Warum stellt sie mir all diese Fragen?« Dabei klang sie wieder wie ein kleines Mädchen.
»Tempe will mit ihm reden. Das ist alles.«
»Aber ich möchte nicht, daß er verhaftet wird. Er ist zwar ein Irrer, aber ich kriege regelmäßig Kohle von ihm, und die brauche ich dringend.«
»Ich weiß, Süße.«
Julie schwenkte den Rest ihres Drinks im Glas und trank ihn dann mit einem Zug aus. Sie vermied es, mir in die Augen zu sehen.
»Und ich werde ihn auch nicht wegschicken. Ganz gleich, was ihr sagt. Er ist verrückt, okay, aber er wird mich schon nicht umbringen. Verdammt noch mal, ich muß mich von ihm ja nicht mal ficken lassen. Und was soll ich denn am Donnerstag tun, wenn er nicht mehr kommt? Eine Abendschule besuchen? In die Oper gehen? Wenn ich es ihm nicht besorge, sucht er sich eine andere.«
Es war das erste Mal, daß sie so etwas wie Gefühle zeigte. Der pubertäre Trotz stand in merkwürdigem Kontrast zu ihrer vorher zur Schau gestellten Lustlosigkeit. Sie tat mir unendlich leid, aber ich machte mir Sorgen um Gabby, und deshalb ließ ich nicht locker.
»Haben Sie Gabby in letzter Zeit gesehen?« fragte ich und versuchte, möglichst sanft zu klingen.
»Wen?«
»Dr. Macaulay. Ist sie Ihnen vielleicht kürzlich über den Weg gelaufen?«
Wenn Julie nachdachte, legte sie ihre Stirn in Falten, die mich an Margot, den deutschen Schäferhund erinnerten. Wahrscheinlich hatte das Tier ein besseres Kurzzeitgedächtnis als sie.
»Die Alte mit dem Nasenring«, sagte Jewel. Es klang, als wäre Gabby bereits Großmutter.
»Ach die.« Julie schloß den Mund, ließ ihn aber gleich wieder offenstehen. »Nein, die hab ich nicht gesehen. Aber ich war ja auch krank.«
Bleib ganz ruhig, Brennan.
»Und geht es Ihnen jetzt besser?« fragte ich.
Julie zuckte mit den Schultern.
»Kommen Sie zurecht?«
Sie nickte.
»Kann ich Ihnen vielleicht noch irgendwas bestellen?«
Kopfschütteln.
»Wohnen Sie hier in der Nähe?« Ich haßte es, sie so auszufragen, aber ich brauchte die Informationen.
»Im Marcella’s. Du weißt schon, Jewel, die Pension in der Rue St. Dominique. Da pennen noch ein paar andere Mädchen.«
Okay. Ich hatte, was ich brauchte. Oder ich würde es zumindest ziemlich bald haben.
Der Cheeseburger und der Alkohol oder was auch immer Julie sonst zu sich genommen hatte, zeigten ihre Wirkung. Julies Trotz war verebbt und die Apathie kehrte zurück. Sie sank wieder auf der Bank zusammen und blickte mich mit ihren müden Augen an. Dann schloß sie sie und atmete so tief ein, daß sich ihre magere Brust unter dem dünnen Baumwolltop merklich hob.
Auf einmal war es mit dem rötlichen Dämmerdunkel rings um uns vorbei. Grelles Neonlicht erhellte die Bar, und Banco verkündete ruppig, daß er in fünf Minuten schließen werde. Die wenigen verbliebenen Gäste gingen unzufrieden maulend zur Tür. Jewel steckte die Zigarettenschachtel in ihren Ausschnitt und bedeutete uns, ihr zu folgen. Ich sah auf die Uhr. Es war vier Uhr früh. Als ich Julie in dem gnadenlos hellen Licht sah, überfiel mich das Schuldgefühl, das ich die ganze Zeit unterdrückt hatte, mit voller Wucht.
Sie war so blaß und eingefallen, daß sie mir wie eine lebende Leiche vorkam. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen und fest an mich gedrückt. Und dann hätte ich sie nach Hause zu ihren Eltern nach Beaconsfield, Dorval oder North Hatley gebracht, damit sie Fastfood essen, zum Abschlußball der Highschool gehen und sich ihre Jeans aus dem Versandhauskatalog bestellen konnte. Aber ich wußte, daß das nicht möglich war. Ich wußte genau, daß Julie über kurz oder lang bei uns in der Leichenhalle landen würde. Ich bezahlte, und wir gingen. Die Morgenluft war feucht und kühl und roch nach Fluß und Brauereien.
»Gute Nacht, die Damen«, sagte Jewel. »Und geht jetzt bloß nicht noch in die Disco.«
Sie winkte uns zu, drehte sich um und ging mit klackernden Pfennigabsätzen davon. Ohne ein Wort des Abschieds setzte sich Julie in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung. Die Aussicht auf meine Wohnung und mein Bett übten zwar eine magnetische Anziehungskraft auf mich aus, aber eine Information mußte ich unbedingt noch haben.
Ich wartete ein paar Augenblicke und sah Julie hinterher, wie sie die kleine Gasse entlangschlurfte. Es würde
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