Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
erleichtert über das rasche Ende des Gesprächs. Normalerweise blieb Gabby immer eine Ewigkeit am Telefon, so daß ich mir oft eine Ausrede einfallen lassen mußte, um sie loszuwerden.
Mit niemandem telefoniere ich mehr als mit Gabby, und während unserer Freundschaft war das Telefon für uns beide eine Art Nabelschnur gewesen, die uns miteinander verband. Schon während des Studiums hatten mir die Gespräche mit ihr den Trübsinn vertrieben. Spät abends, nachdem ich meine Tochter Katy gefüttert, gebadet und ins Bett gebracht hatte, war ich oft die halbe Nacht lang am Telefon gehangen und hatte mit Gabby über Gott und die Welt geplaudert, über neu entdeckte Bücher, Seminare, Professoren und Kommilitonen. Diese stundenlangen Unterhaltungen waren der einzige Luxus gewesen, den wir uns in dieser für uns beide nicht allzu vergnüglichen Zeit geleistet hatten.
Nach dem Studium telefonierten wir weniger häufig, aber am Grundmuster unserer Freundschaft hat sich auch in den Jahrzehnten danach nicht allzu viel verändert. Ob zusammen oder getrennt, wir waren immer füreinander da, in guten wie in schlechten Zeiten. Als ich mit dem Trinken aufhörte, konnte ich Gabby immer anrufen, ganz gleich, ob mir tagsüber die Gier nach Alkohol nicht mehr aus dem Kopf ging oder ob ich mitten in der Nacht zitternd und schweißgebadet aufwachte. Gabby wiederum sucht immer dann meinen telefonischen Rat, wenn eine neue Liebe in ihr Leben tritt. Unsere Gespräche sind dann am Anfang ihrer Beziehung immer aufgekratzt und hoffnungsfroh und werden traurig und verzweifelt, wenn es mit dem Mann wieder einmal nicht geklappt hat.
Als der Kaffee fertig war, nahm ich meine Tasse und setzte mich an den Glastisch im Eßzimmer. Erinnerungen an Gabby gingen mir durch den Kopf, und wie jedesmal, wenn ich an sie dachte, mußte ich lächeln. Gabby im Seminar. Gabby in der Mensa. Gabby mitten in einer Ausgrabung, wie sie mit verrutschtem, knallrotem Halstuch und wild herunterhängenden, hennagefärbten Locken in einer Grube steht und mit einer Kelle in der Erde herumkratzt. Gabby entsprach mit ihren einsfünfundachtzig und ihrer kräftigen Statur noch nie dem gängigen Schönheitsideal. Sie hat das ziemlich früh akzeptiert und gar nicht erst versucht, sich schlank zu hungern. Sie legt keinen Wert auf Sonnenbräune und rasiert sich weder die Beine noch unter den Armen. Gabrielle Macaulay aus Trois Rivières in Quebec, das Kind einer französischen Mutter und eines englischen Vaters, hatte so etwas nicht nötig. Gabby war Gabby. Und damit basta.
Auf der Universität waren wir enge Freundinnen, obwohl Gabby biologische Anthropologie haßte und sich in meinen Lieblingskursen überhaupt nicht wohlfühlte. Mir ging es mit ihren Ethnologieseminaren übrigens genauso. Als wir das Studium an der Northwestern University abgeschlossen hatten, ging ich zurück nach North Carolina und sie wieder nach Montreal, wo sie einen Job bei der Concordia University bekam. Danach sahen wir uns nur sehr selten, blieben aber telefonisch in Verbindung. Ich hatte es zum größten Teil Gabby zu verdanken, daß man mir 1990 eine Gastprofessur an der McGill University in Montreal anbot. Damals fing ich an, als freie Mitarbeiterin für das Büro des Leichenbeschauers zu arbeiten, und auch nach meiner Rückkehr nach North Carolina fuhr ich etwa alle sechs Wochen hinauf nach Kanada und bearbeitete Fälle, bei denen der Rat einer forensischen Anthropologin nötig war. Für dieses Jahr nun hatte ich mich von der University of North Carolina in Charlotte beurlauben lassen und arbeitete hauptberuflich in Montreal. Ich hatte Gabby all die Jahre über ziemlich vermißt und genoß es, daß wir jetzt unsere alte Freundschaft wieder neu aufleben lassen konnten.
Als ich so dasaß und vor mich hin sinnierte, fiel mir auf, daß das Licht an meinem Anrufbeantworter zweimal blinkte. Offenbar hatte es vor Gabbys Anruf schon jemand versucht. Ich hatte das Gerät so eingestellt, daß es beim ersten Anruf nach dem vierten Klingeln dranging, bei allen folgenden schon nach dem ersten. Ich fragte mich, wie ich im Schlaf vier Klingelzeichen überhört haben konnte, und drückte auf den Wiedergabeknopf. Nachdem das Band zurückgespult hatte, hörte ich einen kurzen Pfeifton und gleich darauf Gabbys Stimme. Der Anrufer vor ihr hatte aufgelegt. Na schön. Ich drückte auf Löschen und ging ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen.
Das Gerichtsmedizinische Institut von Montreal ist im Gebäude der QPP
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