Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
mich so mit nach hinten gezogenem Kopf und hilflos ausgestreckten Händen. Ich fühlte mich wie ein Stück Fleisch, das an einem Metzgerhaken hängt. Es kam mir vor, als sähe ich mich aus weiter Entfernung wie ein unbeteiligter Zuschauer, der keine Möglichkeit zum Eingreifen hat.
Um den Zug auf die Kette zu verringern, legte ich die rechte Hand auf die Küchentheke und versuchte, mich damit hochzudrücken. Dabei ertastete ich zwei Gegenstände: den Karton, in dem der Orangensaft gewesen war, und das Messer, mit dem ich ihn aufgeschnitten hatte. Heimlich legte ich die Finger um den Messergriff. Ich stöhnte und schluchzte, um ihn abzulenken.
»Sei ruhig, Nutte. Wir werden jetzt ein kleines Spiel miteinander spielen. Du magst doch Spiele, oder?«
Vorsichtig drehte ich das Messer und würgte lautstark, um auch das leiseste Kratzen des Stahls auf der Theke zu übertönen.
Meine Hand zitterte. Ich zögerte.
Dann dachte ich wieder an die Frauen und an das, was er ihnen angetan hatte. Ich spürte ihre Angst und ihre Verzweiflung kurz vor ihrem Tod.
Tu es!
Adrenalin strömte in meine Brust wie glühende Lava, die einen Berghang hinunterfließt. Wenn ich schon sterben muß, dann wenigstens nicht wie eine Ratte in der Falle. Dann lieber im Kampf.
Jetzt konnte ich wieder klar denken und beschloß, mein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Ich packte das Messer so, daß die Klinge nach oben stand und überlegte mir den günstigsten Winkel. Dann stieß ich das Messer mit aller Kraft, die mir Angst, Verzweiflung und der Haß auf meinen Peiniger verliehen, quer über meine linke Schulter nach hinten. Ich spürte, wie die Messerspitze auf einen Knochen traf und von dort in etwas Weiches glitt.
Der Schrei, den er vorhin von sich gegeben hatte, war nichts im Vergleich zu dem, der jetzt aus seiner Kehle gellte. Er stolperte zurück und ließ die Kette los, deren Ende klirrend auf den Boden fiel.
Ich spürte, wie Blut aus einer Wunde an meinem Hals sickerte. Aber das war mir egal, so lange ich nur Luft bekam. Gierig atmete ich sie ein und lockerte die blutige Kette.
Hinter mir hörte ich ein hohes, urtümliches Brüllen, das mir vorkam wie der Todesschrei eines wilden Tieres. Keuchend hielt ich mich an der Theke fest und drehte mich langsam um.
Er taumelte noch immer rückwärts durch die Küche und hielt sich dabei eine Hand vors Gesicht, während er mit der anderen das Gleichgewicht zu halten versuchte. Gräßlich gurgelnde Geräusche kamen aus seinem offenen Mund, während er mit dem Rücken gegen die Küchenwand stieß und langsam auf dem Boden zusammensackte. Seine ausgestreckte Hand hinterließ eine dunkle Schmierspur auf dem Putz. Eine Weile warf er leise vor sich hinstöhnend den Kopf hin und her, dann kam er mit nach unten gesenktem Kinn zur Ruhe. Seine Hände sanken kraftlos neben seinem Körper zu Boden.
In der plötzlichen Stille stand ich wie erstarrt da und horchte auf meinen keuchenden Atem und das immer leiser werdende Wimmern des Angreifers. Langsam nahm ich durch den Schleier meiner Schmerzen wieder meine Umgebung wahr. Die Spüle, den Herd, den Kühlschrank. In der Küche war es jetzt totenstill. Der Boden unter meinen Füßen war naß und rutschig vom Blut.
Ich starrte auf den leblosen Körper, der mit gespreizten Beinen und auf die Brust gesunkenem Kopf vor mir lag. Trotz der Dunkelheit sah ich, wie sich eine schwarze Pfütze auf seiner Brust ausbreitete.
Dann schoß draußen ein Blitz vom Himmel und tauchte für Sekundenbruchteile den Mann vor mir in ein grelles, bläuliches Licht.
Er trug ein enganliegendes, pfauenblaues Trikot aus glänzendem Stoff, das seinem Körper ein glattes, konturenloses Aussehen verlieh. Eine blaurote Mütze, unter der seine Haare völlig verschwanden, unterstrich diesen Eindruck noch und ließ seinen ovalen Schädel wie ein Ei aussehen.
Aus seiner linken Augenhöhle ragte der Griff meines Steakmessers wie das Fähnchen aus einem Golfloch. Neben dem Messer lief ihm das Blut über Gesicht und Hals. Er hatte aufgehört zu stöhnen.
Ich würgte. Die dunklen Punkte tanzten wieder vor meinen Augen herum. Meine Knie wurden so weich, daß ich, mich an der Küchentheke festhalten mußte.
Ich versuchte, tiefer zu atmen und befreite mich vollends von der Kette. Als ich meine Hände vor die Augen hielt, sah ich, daß sie blutverschmiert waren.
Langsam ging ich in Richtung Tür. Ich dachte an Katy und daran, Hilfe zu holen, als ein Geräusch mich wie angewurzelt stehenbleiben
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