Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
gänzlich unvorbereitet getroffen. Wie schaffte sie es bloß, innerhalb von dreißig Minuten verängstigt, analytisch, wütend und reumütig zugleich zu sein? Es war jetzt zu spät, und ich war viel zu müde, um alles noch einmal mit ihr durchzugehen.
»Es ist schon spät, Gabby«, sagte ich. »Laß uns morgen über alles reden. Natürlich bin ich nicht sauer auf dich, nur froh, daß es dir gutgeht. Und meine Einladung war ernst gemeint. Du kannst jederzeit bei mir schlafen.«
Sie beugte sich herüber zu mir und umarmte mich. »Vielen Dank, aber ich komme allein zurecht. Ich rufe dich an. Versprochen.«
Ich sah ihr nach, wie sie mit wehendem Kleid die Treppe hinaufging. Dann verschwand sie in der roten Tür, und rings um mich war nur noch Leere. Ich blieb noch eine Weile sitzen, umgeben von der Dunkelheit und dem schwachen Geruch von Sandelholz. Obwohl sich nirgendwo etwas bewegte, ergriff ein eiskalter Schauder mein Herz, der aber wie ein vorübergehender Schatten in der nächsten Sekunde wieder verschwunden war.
Den ganzen Heimweg über rasten meine Gedanken mit Lichtgeschwindigkeit in alle möglichen Richtungen. Kochte Gabby da ein neues Melodram zusammen? Oder war sie wirklich in Gefahr? Gab es Dinge, die sie mir nicht sagte? War dieser Mann vielleicht doch gefährlich, oder bildete sie sich das nach meinen Erzählungen von den Morden nur ein? Sollte ich etwas unternehmen? Und wenn ja, was?
Ich ließ die Sorge um Gaby nicht die Oberhand über meine Gedanken gewinnen. Als ich nach Hause kam, tat ich das, womit ich seit Urzeiten Spannungen und Überanstrengung abbaue: Ich ließ mir eine Wanne mit reichlich Badesalz ein, legte eine Chris Rea-CD in die Stereoanlage und drehte die Lautstärke voll auf. Dann lag ich im warmen Wasser und ließ meine düsteren Gedanken von der Musik forttragen. Sollten meine Nachbarn sich doch beschweren. Nach dem Bad aß ich ein paar Plätzchen und trank ein Glas Milch, von dem ich auch Birdie etwas abgab. Als ich damit fertig war, ließ ich das schmutzige Geschirr einfach stehen und kroch ins Bett.
Leider hatte das Bad nicht alle meine Sorgen aufgelöst, so daß ich noch lange keinen Schlaf fand. Ich lag im Bett, betrachtete die Schatten an der Zimmerdecke und kämpfte gegen das Bedürfnis, zum Telefon zu greifen und Pete anzurufen. Ich haßte mich dafür, daß ich mich immer dann, wenn es mir nicht gut ging, nach seiner Stärke sehnte. Das war auch so eine alte Angewohnheit, die ich mir geschworen hatte abzulegen.
Irgendwann einmal zog mich dann der Schlaf in einen tiefen Strudel aus Träumen, durch den Pete, Katy und Gabby ebenso schwirrten wie die Morde. Ich hatte die Ruhe bitter nötig, denn ohne ausreichend Schlaf hätte ich den Tag, der auf mich wartete, wohl nicht überstanden.
8
Ich schlief durch bis kurz nach neun. Normalerweise bin ich keine Langschläferin, aber dieser Freitag war der 24. Juni, der Tag des Heiligen Jean Baptiste und gleichzeitig der Nationalfeiertag der Provinz Quebec. An diesem Tag sind fast alle Geschäfte und Behörden geschlossen, und ich hatte vor, mich ausgiebig auf die faule Haut zu legen. Weil die Gazette, die sonst jeden Morgen auf meiner Türschwelle liegt, am Feiertag nicht erscheint, ging ich nach dem Kaffeekochen zum Zeitungsstand an der Ecke, um ein anderes Blatt zu kaufen.
Es war ein heller, klarer Tag, und alles sah lebendig und frisch aus wie auf einem Laptop mit Aktiv-Matrix-Display. Alles war scharf und kontrastreich gezeichnet, von den Häusern mit ihren Ziegelmauern, Holzbalken und schmiedeeisernen Treppen bis zu den Gärten mit grünen Rasenflächen und üppig-bunten Blumenbeeten. Die Farbe des Himmels, an dem keine einzige Wolke zu sehen war, erinnerte mich an das Blau, das die Drosseleier auf den Andachtsbildchen meiner Kindheit gehabt hatten. Dieser Himmel hätte dem heiligen Johannes bestimmt gefallen.
Die vormittägliche Luft war schon warm und duftete nach Petunien. In der vergangenen Woche war das Thermometer von Tag zu Tag höher gestiegen, und für den Feiertag wurden zweiunddreißig Grad vorhergesagt. Weil Montreal auf einer Insel im St. Lawrence-Strom liegt, würde auch noch eine gehörige Luftfeuchtigkeit dazukommen. Super! Fast wie zu Hause in Carolina: feucht und heiß. Als echte Südstaatlerin liebte ich dieses Wetter.
Am Zeitungsstand kaufte ich mir Le Journal de Montréal. Die »größte französischsprachige Zeitung in Amerika« nahm es mit dem Feiertag nicht so genau wie die englischsprachige Gazette. Auf
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