Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Es sind Augen, vor denen man sich am liebsten verstecken würde. Und als ich sie heute sah, habe ich die Kontrolle verloren. Ich mußte an unsere letzte Unterhaltung über diesen Mörder denken, der dich zur Zeit auf Trab hält. Dann bin ich einfach durchgedreht, Tempe!«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. In der Dunkelheit konnte ich ihr Gesicht zwar kaum sehen, aber ihre Körperhaltung sagte mir, daß sie immer noch Angst hatte. Ihr Oberkörper war steif, und mit den Armen preßte sie die Aktentasche wie einen Schutzschild an die Brust.
»Was weißt du sonst noch von diesem Mann?«
»Nicht viel.«
»Was halten denn die Mädchen von ihm?«
»Die ignorieren ihn.«
»Hat er dich jemals bedroht?«
»Nein. Zumindest nicht direkt.«
»War er gewalttätig, ist er irgendwann mal ausgerastet?«
»Nein.«
»Nimmt er Drogen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Weißt du, wie er heißt oder wo er wohnt?«
»Nein. Solche Dinge fragt man auf dem Kiez nicht. Das ist dort ein ungeschriebenes Gesetz.«
Wieder saßen wir eine Weile schweigend nebeneinander. Ich beobachtete einen Radfahrer, der langsam auf dem Gehsteig vorbeifuhr. Immer, wenn er ins Licht einer Straßenlaterne kam, blitzte sein weißer Helm auf, wie ein vorbeifliegendes Glühwürmchen. Ich sah ihm nach, bis er langsam in der Nacht verschwand. Hell. Dunkel. Hell. Dunkel.
Ich dachte an das, was ich eben gehört hatte, und fragte mich, ob es meine Schuld war. Hatte ich Gabby mit meinen Erzählungen zuviel Angst eingejagt, oder war sie wirklich einem Psychopathen über den Weg gelaufen? Blies sie ein paar zufällige Begegnungen zu einem Schreckgespenst auf, oder war sie tatsächlich in Gefahr? Sollte ich sie alleine mit der Geschichte fertig werden lassen, oder sollte ich etwas unternehmen? Und wenn ja, was? War das ein Fall für die Polizei? So ging ich eine nach der anderen die Fragen durch, die man sich in einer solchen Situation stellt.
Wir blieben eine Weile sitzen, lauschten den Geräuschen aus dem Park, rochen die warme Luft der Sommernacht und hingen unseren Gedanken nach. Die lange Pause hatte einen beruhigenden Effekt auf Gabby, die schließlich den Kopf schüttelte, die Aktentasche in ihren Schoß fallen ließ und sich in ihren Sitz zurücklehnte. Obwohl ich ihre Gesichtszüge nicht sehen konnte, spürte ich, daß sich etwas in ihr verändert hatte. Als sie sprach, klang ihre Stimme kräftiger und nicht mehr so zittrig wie vorhin.
»Ich weiß, daß ich überreagiere, Tempe. Der Typ ist wahrscheinlich nur ein harmloser Irrer, der mir einen Schrecken einjagen will. Und ich spiele sein Spiel auch noch mit. Ich habe diesem Knallkopf erlaubt, mich völlig durcheinanderzubringen.«
»Laufen dir denn solche ›Irren‹, wie du sie nennst, bei deiner Arbeit nicht häufiger über den Weg?«
»Natürlich. Die meisten meiner Informanten stammen nicht gerade aus der besseren Gesellschaft.« Gabby ließ ein kurzes, freudloses Lachen hören.
»Und warum glaubst du, daß dieser Mann anders ist?«
Während Gabby darüber nachdachte, kaute sie an ihrem Daumennagel.
»Schwer zu sagen. Die Grenze zwischen einem harmlosen Irren und einem Gewaltverbrecher ist fließend. Wenn auf dem Kiez eine Frau Gefahr wittert, geht sie mit dem Mann nicht aufs Zimmer. Dabei achtet jede der Frauen auf andere Anzeichen. Es können die Augen eines Mannes sein oder die Tatsache, daß er ausgefallene Dinge verlangt. Hélène zum Beispiel macht es nicht mit Männern, die Cowboystiefel tragen.«
Gabby schaute kurze Zeit ins Leere, bevor sie weitersprach.
»Ich glaube, das ganze Gerede über Serienmörder und Sexualverbrecher hat mir zu sehr zugesetzt.«
Wieder versank sie in längeres Schweigen, und ich sah heimlich auf meine Uhr.
»Wahrscheinlich wollte der Kerl mir bloß einen Schrecken einjagen.«
Noch eine Pause. Offenbar spielte sie die Angelegenheit innerlich herunter.
»Was für ein Arschloch.«
Oder hoch. Ihre Stimme wurde immer ärgerlicher.
»Verdammt noch mal, Tempe, ich werde es nicht zulassen, daß diesem Perversling einer abgeht, während er sich mit irgendwas zudröhnt und mir seine kranken Bilder zeigt. Ich werde ihm sagen, er soll sich das Zeug in den Hintern stecken.«
Sie drehte sich zu mir und legte ihre Hand auf meine.
»Es tut mir leid, daß ich dich angerufen habe, statt ein Taxi zu nehmen. Was bin ich bloß für eine Idiotin? Kannst du mir noch einmal verzeihen?«
Ich starrte sie schweigend an. Wieder einmal hatte mich ihre emotionale Kehrtwendung
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