Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Wochenendes sammeln. Mein Büro sah genau so aus, wie ich es verlassen hatte. Die Stifte aus dem umgeworfenen Behälter lagen immer noch auf dem Schreibtisch verstreut. Während ich sie einsammelte, fielen meine Blicke auf halbfertige Untersuchungsberichte, nicht katalogisierte Dias und eine unfertige Abhandlung über Nähte am Oberkiefer. Die dunklen Augenhöhlen meiner Musterschädel starrten mich mit leeren Blicken an.
Ich war mir noch immer nicht sicher, weshalb ich überhaupt hergekommen war. Ich fühlte mich angespannt und ziemlich von der Rolle. Wieder dachte ich an Dr. Lentz, die mir meine Alkoholabhängigkeit vor Augen geführt und mir geholfen hatte, mir meiner zunehmenden Entfremdung von Pete bewußt zu werden. In sanften, aber schonungslosen Gesprächen hatte sie den Gefühlsschorf entfernt, der meine Empfindungen überkrustet hatte. »Tempe«, hatte sie gesagt, »müssen Sie denn wirklich immer alles unter Kontrolle haben? Können Sie denn niemandem vertrauen?«
Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht war ich jetzt nur hier, um mir später keine Vorwürfe machen zu müssen, ich hätte nicht alles getan, um den Fall zu lösen. Vielleicht konnte ich es nicht ertragen, untätig zu sein und meiner Aufgabe nicht gerecht zu werden. Zwar sagte ich mir, daß die Untersuchung eines Mordfalles gar nicht meine Aufgabe, sondern die der Polizei sei und daß ich lediglich den Beamten mit meinen Untersuchungen zur Seite stehen müsse. Schließlich warf ich mir sogar vor, daß ich nur deshalb hier sei, weil ich den Feiertag nicht alleine verbringen wolle. Aber es half alles nichts.
Als ich die Stifte wieder in den Behälter gesteckt hatte, wußte ich zwar, daß meine Argumente alle stichhaltig waren, aber ich wurde trotzdem das nagende Gefühl nicht los, irgend etwas übersehen zu haben, ein winziges Detail vielleicht, dessen Wichtigkeit mir bisher entgangen war. Ich mußte einfach herausbekommen, was es war.
Also nahm ich einen Aktenordner aus dem Schrank, in dem ich meine alten Untersuchungsberichte aufbewahrte und schlug den aktuellen auf, der sich auf dem Stapel der neuen Fälle befand. Als drittes kam schließlich die Akte hinzu, die ich für Margaret Adkins angelegt hatte. Die drei Hefter, die nun vor mir lagen, symbolisierten die drei Frauen, die ein verrückter Mörder mitten aus dem Leben gerissen und bestialisch abgeschlachtet hatte: Trottier, Gagnon, Adkins. Die Wohnungen der Opfer lagen viele Kilometer voneinander entfernt, und auch beim persönlichen Hintergrund, beim Alter und bei den körperlichen Merkmalen, waren nur wenige Übereinstimmungen zu erkennen. Trotzdem wurde ich den Verdacht nicht los, daß ein und derselbe Mann die drei Frauen getötet hatte. Anders als Claudel sah ich nicht nur die Unterschiede zwischen den drei Morden, sondern auch die Gemeinsamkeiten. Wenn ich ihn allerdings von meiner Auffassung überzeugen wollte, mußte ich noch mehr Verbindungen zwischen den drei Fällen herausfinden.
Ich riß ein Blatt liniertes Papier von meinem Block und machte mir darauf eine einfache Tabelle. Die Kategorien waren Alter, Hautfarbe, Haarfarbe/Länge, Augenfarbe, Größe, Gewicht, zuletzt getragene Kleidung, Familienstand, Sprache, ethnische Gruppe, Religion, Ort/Art der Wohnung, Ort/Art des Arbeitsplatzes, Todesursache, Datum und Uhrzeit des Todes, Zustand der Leiche, Fundort der Leiche, Zuerst nahm ich mir die Akte von Chantale Trottier vor und fing damit an, die darin enthaltenen Daten in meine Tabelle einzutragen. Rasch wurde mir dabei klar, daß meine Unterlagen bei weitem nicht alle Informationen enthielten, die ich brauchte. Ich hätte die kompletten Polizeiberichte nebst Tatortphotos einsehen müssen. Ich sah auf die Uhr. Es war viertel vor zwei. Weil die Sûreté de Québec den Fall Trottier untersucht hatte, beschloß ich, hinunter zu fahren und mich zu informieren. Jetzt war im Büro der Mordkommission bestimmt nicht viel los und deshalb vielleicht genau der richtige Zeitpunkt für mein Anliegen.
Ich hatte recht. Der große Raum war fast leer, und von den in langen Reihen stehenden, behördengrauen Metallschreibtischen waren nur ganz wenige besetzt. In einer Ecke sah ich drei Männer, von denen zwei an sich gegenüberstehenden Schreibtischen vor Stapeln von Akten und überquellenden Eingangskörben saßen.
Einer von ihnen war ein großgewachsener, hagerer Mann mit eingefallenen Wangen und grauen Haaren. Er hatte sich mit seinem Stuhl nach hinten gelehnt und die Füße auf den Tisch
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