Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
dem Rückweg warf ich einen Blick auf die Schlagzeile: BONNE FETE QUÉBEC! stand dort in sechs Zentimeter großen Lettern.
Ich dachte an die Feiertagsparade und das Konzert im Parc Maisonneuve, bei denen Schweiß und Bier in Strömen fließen würden, und an die tiefe politische Kluft, die Quebec in zwei Lager teilte. Im Herbst stand eine Wahl an, und die Emotionen kochten schon jetzt ziemlich hoch. Die Befürworter einer Abspaltung der Provinz von Kanada hofften inständig, daß sie es diesmal schaffen würden. Auf T-Shirts und Buttons war allenthalben zu lesen: L’an prochain mon pays ! Nächstes Jahr wird das mein Land sein! Hoffentlich würde es heute am Feiertag zu keinen gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Separatisten und ihren Gegnern kommen.
Als ich wieder daheim war, goß ich mir eine Tasse Kaffee ein, machte mir eine Schale Müsli und breitete die Zeitung auf dem Eßtisch aus. Ich bin nachrichtensüchtig und suche in einem Hotelzimmer noch vor dem Kofferauspacken am Fernseher CNN. Am liebsten allerdings lese ich Zeitungen, und was ich unter der Woche nicht schaffe, hole ich am Wochenende in aller Ruhe nach.
Trinken darf ich nicht, Rauchen finde ich widerlich, und mit meinem Sexualleben ist seit einem Jahr auch nicht mehr allzu viel los. Das einzige Laster, das ich mir leiste, sind meine Leseorgien am Samstag morgen, bei denen ich mich stundenlang in meine Zeitungen vergrabe, bis ich auch die allerkleinste Meldung gelesen habe. Dabei geht es mir nicht so sehr um den Neuigkeitswert der Artikel. Mir ist bewußt, daß die meisten ohnehin Schnee von gestern sind. Ereignisse wie Erdbeben, Staatsstreiche, Handelskriege oder Geiselnahmen werden wie die Bälle bei der Ziehung der Lottozahlen ständig durcheinandergewirbelt. Täglich werden ein paar von ihnen gezogen, und ich will wissen, welche gerade heute dran sind.
Das Journal hat eher kurze Artikel und viele Bilder. Damit ist es zwar nicht gerade der Christian Science Monitor, aber zur Not reicht es für meine Bedürfnisse. Birdie, dem mein Ritual vertraut war, machte es sich im Stuhl neben meinem bequem. Bisher konnte ich noch nicht herausfinden, ob er das tut, weil er meine Nähe mag, oder weil er darauf hofft, etwas von meinem Müsli abzubekommen. Er machte einen Buckel und ließ sich dann auf das Kissen nieder, wobei er alle vier Pfoten unter seinen Körper zog. Dabei heftete er seine gelben Augen auf mich, als könne er in meinem Gesicht die Lösung eines tiefen Katzengeheimnisses ergründen. Als ich anfing zu lesen, spürte ich, wie er mich noch immer ansah.
Der Artikel stand auf Seite zwei, zwischen einer Meldung über einen erdrosselten Priester und den Berichten von der Fußballweltmeisterschaft.
FRAU ERMORDET UND BESTIALISCH VERSTÜMMELT
In einer Wohnung im Eastend wurde gestern die verstümmelte Leiche von Margaret Adkins aufgefunden. Mme. Adkins war Hausfrau und Mutter eines sechsjährigen Sohnes. Noch um zehn Uhr vormittags telefonierte sie mit ihrem Ehemann, danach gab es kein Lebenszeichen mehr von ihr. Die Tote wurde gestern Mittag von ihrer Schwester entdeckt.
Nach Angaben der Polizei ist es noch unklar, wie der Mörder ins Haus gekommen ist. Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen wurden nicht gefunden. Dr. Pierre LaManche vom Laboratoire de Médecine Légale führte die Autopsie durch, und Dr. Temperance Brennan, forensische Anthropologin aus den USA und Spezialistin für Knochenverletzungen, untersucht zur Zeit das Skelett des Opfers auf Messerspuren…
Danach erging sich der Artikel in Spekulationen darüber, was die Tote vor ihrer Ermordung gemacht haben könnte, und wandte sich schließlich mit herzerweichenden Worten ihrer trauernden Familie zu. Er endete mit dem Versprechen der Polizei, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um den Mörder so bald wie möglich dingfest zu machen. Der Artikel beinhaltete auch mehrere Photos: Schwarzweiß aufgerastert war das Wohnhaus von Margaret Adkins zu sehen, aus dem gerade die Rollbahre mit dem Leichensack geschoben wurde. Auf dem Gehsteig drängten sich hinter einem Absperrband die Neugierigen, deren Gesichter in dem groben Zeitungsdruck kaum zu erkennen waren. Vor den Absperrungen stand Claudel, der den rechten Arm gehoben hatte und dadurch aussah wie der Dirigent eines Schülerorchesters. Zwischen die beiden Photos war ein kreisrundes Bild von Margaret Adkins montiert, das eine zwar unscharfe, aber dafür sehr viel glücklichere Version des Gesichts
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