Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
ihren Slang zu lernen, dann hat man keine Probleme mit ihnen. Es ist wie überall. Wenn man was von den Leuten will, darf man sie nicht vor den Kopf stoßen. Auf dem Kiez gibt es ein paar ganz einfache Regeln, an die man sich halten muß: Respektiere die Reviere der Frauen, bescheiße niemanden und rede nicht mit der Polizei. Mal abgesehen davon, daß ich mir oft die Nächte um die Ohren schlagen muß, ist dieses Projekt auch nicht schwieriger als andere. Außerdem kennen die Mädchen mich schon ziemlich gut und wissen, daß ihnen von mir keine Gefahr droht.«
Gabby verstummte. Ich konnte nicht sagen, ob sie mich jetzt wieder aus ihren Gedanken ausschloß oder ob sie darüber nachdachte, wie sie fortfahren sollte. Ich entschloß mich, ihr einen kleinen Schubs zu geben.
»Wirst du denn von Leuten vom Kiez bedroht?«
Gabby hatte sich in ihrer Arbeit immer fair verhalten. Vielleicht, so dachte ich, will sie einen Informanten oder eine Informantin decken.
»Meinst du damit eines der Mädchen? Nein, nein, die sind okay. Haben mir nie ein Problem gemacht. Ich glaube, daß die mich sogar mögen. Schließlich kann ich mindestens so ordinär daherreden wie manche von ihnen.«
Toll. Jetzt wußten wir wenigstens, wo das Problem nicht lag. Aber das genügte mir noch nicht.
»Wie vermeidest du denn, daß man dich für eine Nutte hält?«
»Gar nicht. Ich mische mich einfach unter sie. Die Mädchen wissen, daß ich ihnen keinen Freier wegschnappe und lassen mich gewähren.«
Eine Frage lag mir auf der Zunge, aber ich stellte sie nicht.
»Wenn ein Typ was von mir will, dann sage ich einfach, daß ich im Moment nicht arbeite. Die meisten gehen dann weiter.«
Es gab wieder eine Pause, in der Gabby sich wohl überlegte, was sie mir sagen, was sie für sich behalten und was sie für Nachfragen meinerseits in der Hinterhand behalten sollte. Sie fummelte an einer Schnalle ihrer Aktentasche herum. Draußen im Park bellte ein Hund. Ich war mir sicher, daß Gabby mir etwas verschwieg und jemanden deckte, aber dieses Mal drängte ich sie nicht.
»Die meisten Männer sind harmlos, aber nicht alle«, fuhr Gabby schließlich fort. »Wie dieser Kerl neulich.«
Eine Pause.
»Wer ist er?«
Wieder eine Pause.
»Ich weiß nicht, wer er ist, aber er hat mir wirklich einen Schrecken eingejagt. Er ist kein Freier im engeren Sinn, aber er treibt sich viel mit den Prostituierten herum. Die Mädchen beachten ihn nicht weiter, aber er kennt sich in der Szene recht gut aus und wollte mit mir reden. Also habe ich ihm ein paar Fragen gestellt.«
Pause.
»In letzter Zeit hat er dann angefangen, mich zu verfolgen. Zuerst habe ich es gar nicht bemerkt, aber dann fiel er mir an den merkwürdigsten Orten auf, zum Beispiel in der Metro, wenn ich abends nach Hause fuhr, oder hier im Park. Einmal sah ich ihn sogar an der Concordia, vor dem Bibliothekgebäude, in dem ich mein Büro habe. Oder ich sah ihn hinter mir auf dem Gehsteig. Als ich ihn dann letzte Woche auf dem Boulevard St. Laurent erkannte, stellte ich ihn auf die Probe. Ich verlangsamte und beschleunigte meine Schritte, und er tat es mir jedes Mal nach. Dann versuchte ich, ihn abzuschütteln, indem ich in eine Konditorei ging, aber als ich wieder herauskam, stand er auf der anderen Straßenseite und tat so, als würde er sich ein Schaufenster ansehen.«
»Bist du denn sicher, daß es immer derselbe Mann war?«
»Ganz sicher.«
Es folgte eine lange Pause, die ich abwartete, ohne etwas zu sagen.
»Aber das ist noch nicht alles.«
Gabby starrte in ihre Hände, die sie jetzt wieder gefaltet hatte und fest zusammenpreßte.
»In letzter Zeit hat der Kerl mir ziemlich abgedrehten Mist erzählt. Ich habe versucht, ihm aus dem Weg zu gehen, aber heute Abend tauchte er in dem Restaurant auf. Manchmal kommt es mir so vor, als habe er eine Art Radar, mit dem er mich orten kann. Naja, wie dem auch sei, er hat wieder auf mich eingeredet und mir jede Menge verrückter Fragen gestellt.«
Gabby zog sich erneut in ihr Inneres zurück, aber schon einen Augenblick später wandte sie sich wieder an mich, als habe sie plötzlich eine Antwort gefunden, nach der sie lange gesucht hatte.
»Es sind seine Augen, Tempe«, sagte sie mit überrascht klingender Stimme. »Seine Augen sind so unheimlich! Sie sind schwarz und hart wie die einer Viper, und das Weiß drumrum ist immer blutunterlaufen. Ich weiß nicht, ob er krank ist oder dauernd einen Kater hat oder was. Aber ich habe noch nie solche Augen gesehen.
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