Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Charbonneau wie mit einem Laufburschen. Vor lauter Ungeduld gab er nicht einmal mehr vor, höflich zu sein.
Charbonneau hob indigniert die Augenbrauen und gab Claudel wortlos die Photographie. Er, Bertrand und Ryan stürzten sich darauf wie Footballspieler über die Mannschaftsaufstellung und drehten Charbonneau den Rücken zu.
»Das dumme Arschloch hat doch tatsächlich Adkins’ Bankkarte benutzt«, sagte er. »Eine Stunde, nachdem er ihr das Lebenslicht ausgeblasen hat. Offenbar hatte er sich an dem Tag noch nicht genügend amüsiert, also ging er zum Depanneur an der nächsten Ecke, um sich am Bancomaten ein bißchen Bargeld zu beschaffen. Aber weil dort nicht gerade die oberen Zehntausend verkehren, wird der Geldautomat mit einer Videokamera überwacht. Wir brauchten nur Adkins’ Geheimnummer eintippen, und, voilà schon haben wir einen Abzug fürs Familienalbum.«
Er deutete auf das Photo, das er eben gebracht hatte.
»Eine echte Schönheit, findet ihr nicht? Ich bin in aller Früh in den Laden gegangen und habe das Bild dem Mann gezeigt, der dort die Nachtschicht gemacht hat. Er glaubt, das Gesicht zu kennen, weiß aber nicht den Namen des Typs. Er meinte, wir sollten den Besitzer fragen, der um neun Uhr kommt. Es sieht so aus, als wäre unser Bursche ein Stammkunde in dem Laden.«
»Heiliger Bimbam«, sagte Bertrand.
Ryan enthielt sich jeglichen Kommentars. Er beugte sich über seinen kleineren Kollegen und betrachtete das Bild.
»Das ist also der Scheißkerl«, sagte Claudel, während er das Photo genau studierte. »Dann wollen wir das Arschloch mal hoppsnehmen.«
»Ich würde gerne dabeisein«, sagte ich.
Die Polizisten hatten meine Anwesenheit offenbar allesamt vergessen und drehten sich fast gleichzeitig zu mir um. Die beiden Detectives von der SQ lächelten amüsiert und schienen gespannt darauf zu sein, wie Claudel auf meine Bitte reagieren würde.
»C’est impossible«, sagte er und sprach als einziger jetzt noch Französisch. Er zog dabei die Kiefermuskeln so stark zusammen, daß sein ganzes Gesicht angespannt wirkte. In seinen Augen war nicht der Funke eines Lächelns zu sehen.
Showdown.
»Sergeant Claudel«, begann ich auf Französisch und wählte meine Worte sorgfältig. »Ich glaube, daß ich bei einigen Mordopfern, die ich zu untersuchen hatte, signifikante Übereinstimmungen gefunden habe. Wenn dem so ist, dann wäre es durchaus möglich, daß ein und derselbe Täter – den Sie vorhin einen Psychopathen genannt haben – für alle diese Morde verantwortlich ist. Vielleicht habe ich recht, vielleicht auch nicht. Aber wollen Sie wirklich das Leben weiterer unschuldiger Menschen aufs Spiel setzen, nur weil Sie nicht an diese Verbindung glauben? Wollen Sie allen Ernstes die Verantwortung dafür übernehmen?«
Ich sagte das höflich, aber bestimmt. Auch ich war alles andere als amüsiert.
»Ach, was soll’s Luc, laß sie doch mitfahren«, meinte Charbonneau. »Wir befragen doch bloß ein paar Zeugen.«
»Und außerdem ist der Kerl sowieso erledigt, ob du sie jetzt ins Vertrauen ziehst oder nicht«, ergänzte Ryan.
Claudel sagte nichts. Er nahm seine Schlüssel aus der Tasche, steckte das Photo ein und ging an mir vorbei zur Tür.
»Dann wollen wir mal«, sagte Charbonneau.
Ich ahnte, daß aus diesem Feiertag ein Arbeitstag werden würde.
9
Die Fahrt gestaltete sich alles andere als einfach. Während der Wagen mit Charbonneau am Steuer sich die Rue de Maisonneuve entlangquälte, lehnte ich mich hinten in meinen Sitz zurück, blickte aus dem Fenster und ignorierte das periodische Krächzen des Funkgeräts. Der Nachmittag war drückend heiß. Während wir im Schrittempo vorwärtskrochen, sah ich, wie die Luft über dem heißen Pflaster waberte.
Ganz Montreal schien sich in patriotischem Eifer herausgeputzt zu haben. Wo ich auch hinsah, entdeckte ich die vier weißen Lilien auf blauem Grund, die Flagge der Provinz Quebec. Sie hing von Balkonen, prangte auf T-Shirts, Mützen und Boxershorts und wurde als Tuch geschwenkt oder auf Transparenten herumgetragen. Manche Leute hatten sich die Lilien sogar ins Gesicht geschminkt. Die Straßen von der Innenstadt bis zur Main waren verstopft: Tausende von blau-weiß gekleideten Menschen, vom Punk bis zur Mutter mit Kinderwagen, bewegten sich in dichten Strömen nach Norden, in Richtung auf die Rue Sherbrooke, um dort den Festzug zu sehen, der um zwei Uhr in St. Urbain aufgebrochen war und sich tanzend und musizierend in Richtung Osten
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