Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
zugute. Obwohl er normalerweise ein höflicher und zurückhaltender Mann war, galt Ryan in gewissen Kreisen als knallharter Bursche, der sämtliche Ganoventricks kannte und Verbrechern meistens einen Schritt voraus war. Ich persönlich hatte bisher noch nie mit ihm zusammengearbeitet und hatte meine Informationen über ihn nur aus Erzählungen seiner Kollegen, von denen noch nie einer ein schlechtes Wort über Andrew Ryan gesagt hatte.
»Was treibt Sie denn am Feiertag hierher?« fragte er und deutete mit seinem langen Arm in Richtung Fenster. »Sie sollten da draußen sein und den Feiertag genießen.«
Ich sah ihn an und entdeckte die dünne Narbe, die sich aus seinem Hemdkragen seitlich am Hals hinaufzog. Sie sah glatt und glänzend aus, wie eine Gummischlange.
»Vermutlich mein beklagenswertes Leben als Single«, antwortete ich. »Wenn die Geschäfte geschlossen sind, weiß ich einfach nichts mit mir anzufangen.«
Während ich das sagte, schob ich mir ein paar Haarsträhnen aus der Stirn. Ich erinnerte mich daran, daß ich noch meine Sportsachen trug und fühlte mich angesichts der perfekt gestylten Männer, die aussahen, als wären sie soeben den Seiten der Männer-Vogue entsprungen, auf einmal ziemlich unwohl.
Bertrand kam hinter seinem Schreibtisch hervor und streckte mir lächelnd und kopfnickend die Hand hin. Als ich sie schüttelte, bemerkte ich, daß Claudel mich noch immer nicht ansah. Seine Anwesenheit hier war mir in etwa so willkommen wie eine Pilzinfektion.
»Ich würde gerne einen Blick auf eine Akte aus dem letzten Jahr werfen«, sagte ich. »Chantale Trottier. Sie wurde im Oktober 93 ermordet. Man hat ihre Leiche in St. Jerome gefunden.«
Bertrand schnippte mit den Fingern und deutete dann mit dem Zeigefinger auf mich.
»An die erinnere ich mich. Die Tote auf der Müllhalde. Den Bastard, der sie auf dem Gewissen hat, haben wir bis heute noch nicht geschnappt.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Claudels Blicke hinüber zu Ryan wanderten. Obwohl die Bewegung kaum wahrnehmbar war, erweckte sie doch meine Aufmerksamkeit. Ich vermutete stark, daß es kein Höflichkeitsbesuch war, den Claudel hier machte. Bestimmt hatte er mit Ryan und Bertrand über den gestrigen Mord gesprochen. Ich fragte mich, ob dabei auch die Morde an Trottier und Gagnon erwähnt worden waren.
»Gern«, sagte Ryan mit lächelndem, aber teilnahmslosem Gesicht. »Sie können alles kriegen, was Sie wollen. Glauben Sie denn, daß wir damals möglicherweise etwas übersehen haben?«
Er nahm ein Päckchen Zigaretten vom Tisch, steckte sich eine in den Mund und bot mir auch eine an. Ich schüttelte den Kopf.
»Nein, das glaube ich nicht«, erklärte ich. »Aber ich arbeite oben in meinem Büro gerade an zwei Fällen, bei denen ich immer wieder an Chantale Trottier denken muß. Ich weiß allerdings noch nicht so recht, wonach ich überhaupt suche. Ich würde nur gerne mal einen Blick auf die Tatortphotos werfen und vielleicht den Untersuchungsbericht lesen.«
»Ja, ich kenne das Gefühl«, sagte Ryan und blies den Rauch seitlich aus dem Mund. Falls er wußte, daß auch Claudel an diesen Fällen arbeitete, so ließ er sich nichts anmerken. »Manchmal muß man einfach seinem Instinkt folgen. Was meinen Sie, wie die Verbindung zwischen den Morden denn aussehen könnte?«
»Sie glaubt, daß da draußen ein Psychopath herumläuft, der für sämtliche Morde dieses Jahrhunderts verantwortlich ist«, sagte Claudel mit ungerührter Stimme und blickte dabei nicht von seinen Schuhen auf. Beim Sprechen bewegten sich seine Lippen kaum. Ich hatte den Eindruck, als mache er sich nicht einmal mehr die Mühe, seine Verachtung für mich zu verbergen. Ich wandte mich ab und ignorierte ihn.
Ryan lächelte Claudel an. »Jetzt hab dich doch nicht so, Luc. Es tut doch nicht weh, wenn man sich die Sache noch einmal ansieht. Bisher haben wir bei unseren Ermittlungen wahrlich keinen Geschwindigkeitsrekord gebrochen.«
Claudel schnaubte verächtlich. Dann schüttelte er den Kopf und sah wieder auf die Uhr.
Ryan wandte sich wieder an mich. »Also, wo könnte es Übereinstimmungen geben?«
Noch bevor ich ihm eine Antwort geben konnte, flog die Tür auf, und Michel Charbonneau platzte herein. Er lief im Zickzack auf uns zu und schwenkte dabei ein Photo in seiner linken Hand.
»Das ist er«, rief er. »Das ist der Hurensohn.« Sein Gesicht war rot, und er atmete schwer.
»Wurde auch Zeit«, murmelte Claudel. »Laß mal sehen.« Er redete mit
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