Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
gelegt. Sein Name war Andrew Ryan, und er sprach ein hartes, flaches Französisch wie viele Menschen, deren Muttersprache Englisch ist. Um seine Worte zu unterstreichen, fuchtelte er mit einem Kugelschreiber in der Luft herum, so daß die leeren Ärmel seines Jacketts, das er über die Lehne des Stuhls gehängt hatte, im Rhythmus seiner Bewegungen mitschwangen. Die drei Männer erinnerten mich an wartende Feuerwehrleute: entspannt, aber in Sekundenschnelle einsatzbereit.
Ryans Kollege sah ihn über die Tische hinweg an. Er hatte den Kopf schiefgelegt wie ein Kanarienvogel, der durch die Gitterstäbe seines Käfigs blickt. Er war klein und muskulös, fing aber langsam an, den Speck der mittleren Jahre anzusetzen. Sein Gesicht zeugte von regelmäßigen Besuchen im Sonnenstudio, und seine dichten, schwarzen Haare waren exakt geschnitten und gekämmt. Er sah aus wie ein Möchtegern-Schauspieler für einen Werbespot. Ich hatte ihn in Verdacht, daß er sich sogar seinen Schnurrbart vom Friseur pflegen ließ. Ein hölzernes Namensschild auf seinem Tisch verkündete, daß er Jean Bertrand hieß.
Der dritte Mann hockte auf der Kante von Bertrands Schreibtisch, hörte dem Gespräch der beiden zu und inspizierte die Fransen seiner italienischen Schuhe. Als ich ihn sah, sackte meine Stimmung wie in einem Fahrstuhl nach unten.
»… wie eine aschenscheißende Ziege.«
Alle drei lachten gleichzeitig und hämisch auf wie Männer, die sich eben einen Spaß auf Kosten einer Frau geleistet haben. Claudel schaute auf die Uhr.
Du leidest unter Verfolgungswahn, Brennan, sagte ich mir. Reiß dich zusammen. Ich räusperte mich und schlängelte mich durch das Labyrinth der Tische auf die Gruppe zu. Das Trio drehte die Köpfe in meine Richtung und verstummte.
Als die beiden Detectives von der SQ mich erkannten, lächelten sie und standen auf. Claudel blieb auf seiner Tischkante sitzen. Ohne seine Abneigung zu verbergen, streckte er die Füße aus und widmete sich wieder seinen Schuhen, deren Betrachtung er nur für einen beiläufigen Blick auf seine Uhr unterbrach.
»Dr. Brennan, wie geht es Ihnen?« fragte Ryan auf englisch und streckte mir seine Hand entgegen. »Waren Sie in letzter Zeit mal wieder zu Hause in den Staaten?«
»Seit Monaten schon nicht mehr.« Sein Händedruck war fest.
»Ich wollte bloß fragen, ob man dort mittlerweile ein Maschinengewehr mitnimmt, wenn man abends ausgeht.«
»Nein, das lassen wir zu Hause. Und zwar auf eine Lafette montiert.«
Solche Flachsereien über die Straßenkriminalität in den USA hörte ich hier häufiger.
»Haben Sie dort unten eigentlich schon Toiletten mit Wasserspülung?« fragte Bertrand. Mit »dort unten« meinte er die Südstaaten, über die er sich besonders gerne lustig machte.
»Nur in den größeren Hotels«, gab ich zurück.
Von den drei Männern schien nur Ryan peinlich berührt zu sein.
Andrew Ryan war eigentlich nicht das, was man sich unter einem Beamten der Sûreté de Québec vorstellte. Er wurde in Neuschottland als der einzige Sohne irischer Eltern geboren, die beide Ärzte waren und ihre Ausbildung in London absolviert hatten. Als sie nach Quebec kamen, hatten sie darunter gelitten, daß sie nicht französisch gesprochen hatten. Deshalb hatten sie ihren Sohn, von dem sie wollten, daß er später einmal in ihre Fußstapfen trat, auf das St. Francis Xavier College in Montreal geschickt, wo er eine zweisprachige Erziehung erhalten sollte.
In Ryans drittem Studienjahr liefen die Dinge aus dem Ruder. Ryan machte Bekanntschaft mit Alkohol und Drogen, und bald trieb er sich mehr mit Säufern und Kiffern in nach abgestandenem Bier riechenden Kneipen herum als an der Universität. Bald war er bei der Polizei kein Unbekannter mehr, und häufig wachte er nach seinen Sauftouren in seinem eigenen Erbrochenen liegend auf dem Boden einer Ausnüchterungszelle auf. Schließlich wurde er ins St. Martha’s Krankenhaus eingeliefert, nachdem ihm ein zugekokster Junkie mit einem Messer in den Hals gestochen und dabei nur um wenige Millimeter die Schlagader verfehlt hatte.
Diese Erfahrung war der Wendepunkt in Andrew Ryans Leben. Er änderte sich so rasch und radikal wie ein wiedergetaufter Christ. Aber weil ihn die Unterwelt immer noch faszinierte, wechselte Ryan lediglich die Seiten. Nach einem Studium der Kriminologie bekam er einen Job bei der SQ, wo er inzwischen bis zum Lieutenant aufgestiegen war.
Ryans Erfahrungen in der Halbwelt kamen ihm in seinem Beruf natürlich
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