Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
bewegte. Im Augenblick befand er sich in etwa auf unserer Höhe.
Durch das Summen der Klimaanlage drangen Gelächter und ab und zu ein paar Verse eines Liedes ins Wageninnere. Schon jetzt waren vereinzelte Streitigkeiten unter den Leuten zu beobachten. Als wir an einer Ampel an der Rue Amherst stehenbleiben mußten, sah ich, wie irgendein Blödmann seine Freundin an eine Mauer drückte. Seine Haare waren oben kurzgeschnitten und hingen hinten lang herab. Das hühnchenblasse Gesicht des Mannes rötete sich zunehmend vor Wut. Wir fuhren weiter, bevor der Streit eskalierte. Das Gesicht der jungen Frau mit den blinzelnden Augen und dem erschrocken geöffneten Mund verschwand. Dafür schob sich ein Paar nackter Brüste vor das Autofenster, die auf einem Plakat des Musée des Beaux Arts Reklame für eine Ausstellung mit Bildern von Tamara de Lempicka machten. Une femme libre, verkündete das Plakat. »Eine freie Frau.« Wieder so eine Ironie des Lebens. Wenigstens konnte ich mir mit einiger Genugtuung sagen, daß der Flegel von vorhin vermutlich keinen schönen Abend haben würde. Aggressive Kerle wie er konnten sich an einem Tag wie heute leicht eine Abreibung einhandeln.
Charbonneau wandte sich an Claudel. »Laß mich doch noch mal einen Blick auf das Bild werfen.«
Claudel zog das Photo aus seiner Tasche. Charbonneau musterte es im Fahren.
»Allzuviel kann man ja nicht erkennen«, bemerkte er und reichte mir das Bild nach hinten.
Es war ein Schwarzweißphoto, eine Ausschnittsvergrößerung aus einem Bild, das aus ziemlicher Höhe von oben rechts aufgenommen worden war. Es zeigte verschwommen die Gestalt eines Mannes, der sich mit von der Kamera abgewandtem Gesicht auf den Geldautomaten konzentrierte. Oben auf dem Kopf war der Mann fast vollständig kahl, aber er hatte aus dem ihm verbliebenen Haarkranz viele Haarsträhnen quer über den Kopf gekämmt, um diese Blöße zu verdecken. Ich liebe diese Art von Männerfrisur, sie ist so sexy wie eine enganliegende Badehose.
Der Mann hatte buschige Augenbrauen, und seine Ohren standen von dem leichenblassen Gesicht ab wie die Blütenblätter eines Stiefmütterchens. Er trug ein kariertes Hemd und eine Art Arbeitshose. Weitere Details konnte ich aufgrund der Körnigkeit des Abzugs und des ungünstigen Aufnahmewinkels nicht erkennen. Ich mußte Charbonneau recht geben. Der Mann würde schwer zu identifizieren sein. Ohne Kommentar reichte ich das Photo wieder nach vorn.
Dépanneurs werden in Montreal die kleinen Geschäfte genannt, in denen man das Notwendigste finden kann. Es gibt sie praktisch an jeder Ecke, überall dort, wo sich ein Kühlschrank und ein paar Regale aufstellen lassen. Dépanneurs leben hauptsächlich vom Verkauf von Molkereiprodukten, Gemüse und alkoholischen Getränken. Es gibt sie in allen Vierteln der Stadt, und wenn man rasch eine Tüte Milch, Zigaretten, Bier oder billigen Wein braucht, dann geht man zu Fuß zum Dépanneur. Luxusgüter oder Parkplätze sucht man dort vergebens, und nur die besseren Dépanneurs verfügen über Serviceleistungen wie Geldautomaten.
»Der Laden ist in der Rue Berger«, sagte Charbonneau, »einer Seitenstraße zur Rue Ste. Catherine. Wir müssen die René Lévesque bis zur St. Dominique nehmen und dort wieder nach Norden fahren. Das Viertel ist ein einziges Labyrinth aus Einbahnstraßen.«
Charbonneau bog nach links ab und fuhr im Schrittempo nach Süden. In seiner Ungeduld trat er, sobald die Straße für ein paar Meter frei war, voll aufs Gas und bremste kurz darauf wieder ab, so daß der Chevy schaukelte wie die Gondel eines Riesenrads. Weil ich davon ein wenig seekrank wurde, konzentrierte ich mich auf die Boutiquen, Bistros und die modernen Ziegelbauten der Université du Québec in der Rue St. Denis.
» Sacré bleu !«
» Ca-lice !« fluchte Charbonneau, als sich ein grüner Toyota vor ihn drängte.
»Verdammter Bastard!« fügte er hinzu, während er voll auf die Bremse stieg und nur Zentimeter hinter der Stoßstange des anderen Wagens zum Stehen kam.
Claudel, dem die abgehackte Fahrerei seines Kollegen offenbar vertraut war, schien das alles nicht zu kümmern. Ich wünschte, ich hätte eine Tablette gegen Seekrankheit dabei, sagte aber nichts.
Als wir endlich am Boulevard René Lévesque waren, bogen wir nach Westen ab, nur um gleich wieder in der Rue St. Dominique in nördlicher Richtung weiterzufahren. Auf diese Weise erreichten wir schließlich die Rue Ste. Catherine, und zwar weniger als einen Block
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