Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
sterben mußte, der diesem Monstrum zum Opfer gefallen war, das da draußen immer noch frei herumlief. Ryan kritzelte etwas auf seinen Block. Ich sah, daß seine Nackenmuskulatur ganz angespannt war.
»Was machen wir jetzt?« fragte Poirier mit einer Stimme, die unnatürlich hoch klang.
»Jetzt suchen wir den Rest«, antwortete ich.
Als Cambronne gerade mit dem Photographieren der Knochen begann, hörten wir, wie Piquot zurückkam. Wieder kämpfte er sich mitten durchs Gestrüpp. Er trat auf uns zu, besah sich die Knochen und gab einen geflüsterten Stoßseufzer von sich.
Ryan wandte sich an Bertrand. »Kannst du hier weitermachen, während wir hinüber zu dem Hund schauen?«
Bertrand nickte. Sein Körper war kerzengerade wie die Stämme der Fichten rings um uns.
»Sehen wir, was wir finden können, und dann soll die Spurensicherung noch einmal das ganze Grundstück durchkämmen. Ich schicke sie gleich mal zu dir.«
Wir ließen Bertrand und Cambronne bei den Knochen und gingen hinter Piquot her in Richtung auf das Hundegebell. Das Tier klang, als würde es jeden Moment wahnsinnig werden.
Drei Stunden später saß ich auf einem Grasstreifen und untersuchte den Inhalt von vier Leichensäcken. Obwohl die Sonne hoch am Himmel stand und mir auf die Schultern brannte, konnte sie nicht das Gefühl eisiger Kälte vertreiben, das ich in mir spürte. Fünf Meter von mir entfernt lag der Schäferhund zu Füßen des Hundeführers und hatte den Kopf schief auf seine großen, braunen Pfoten gelegt. Das Tier hatte einen arbeitsamen Vormittag hinter sich.
Leichenhunde sind speziell auf den Geruch von verwesendem oder verwestem Fleisch trainiert. Darauf reagieren sie wie Infrarotsucher auf Wärmequellen. Selbst wenn eine Leiche schon nicht mehr da ist, entdecken sie mit ihren feinen Nasen den Ort, an dem sie gelegen hat. Dieser Hund hatte uns zu drei weiteren vergrabenen Plastiksäcken mit Leichenteilen geführt. Immer, wenn er eine neue Stelle gefunden hatte, hatte er gebellt und in die Luft geschnappt und war wie verrückt im Kreis um die Stelle herumgelaufen. Ich hatte mich dabei gefragt, ob wohl alle Leichenhunde so sehr bei der Sache waren wie dieser.
Ganze zwei Stunden hatten wir gebraucht, um die Säcke auszugraben und vorläufig zu sichten. Dann hatten wir die Knochen zusammengetragen und ich hatte sie katalogisiert. Jetzt blickte ich hinüber zu dem Hund und fand, daß er genauso müde aussah, wie ich mich fühlte. Nur seine Augen bewegten sich wie schokoladenbraune, glänzende Radarschüsseln, als er sich umsah, ohne den Kopf zu drehen.
Der Hund hatte das Recht, müde zu sein, und ich hatte es auch. Als er schließlich den Kopf hob, ließ er seine lange, dünne Zunge heraushängen und fing an zu hecheln. Ich hingegen behielt meine Zunge im Mund und ging noch einmal die Liste der Knochen durch.
»Wieviele sind es?«
Ich hatte gar nicht gehört, daß jemand von hinten an mich herangetreten war, aber ich erkannte die Stimme.
» Bonjour, Monsieur Claudel. Comment ça va ?«
»Wieviele Leichen sind es?« wiederholte er, ohne meinen Gruß zu erwidern.
»Eine«, antwortete ich, ohne aufzusehen.
»Und fehlt etwas?«
Ich füllte mein Formular zu Ende aus, erst dann drehte ich mich zu ihm um. Claudel stand mit gespreizten Beinen da und wickelte gerade ein Automatensandwich aus seiner Zellophanhülle.
Wie Bertrand hatte sich Claudel heute für Naturtextilien entschieden. Er trug Hemd und Hose aus Baumwolle und hatte ein Leinenjackett über dem Arm hängen. Im Gegensatz zu Bertrands Kleidung leuchteten Claudels Sachen in einem frischen Grün, zu dem seine orange Krawatte den nötigen Farbtupfer beisteuerte.
»Können Sie mir sagen, was Sie alles gefunden haben?« fragte er und deutete mit seinem Sandwich auf die Knochen, die vor mir lagen.
»Ja.«
»Und?«
Claudel war noch keine halbe Minute hier, und schon hätte ich ihm am liebsten das Sandwich aus der Hand gerissen und es ihm in die Nase oder eine andere Körperöffnung gestopft. Selbst wenn ich ausgeruht und entspannt war, brachte Claudel nicht gerade meine besten Charakterzüge zum Vorschein, und jetzt war ich alles andere als ausgeruht und entspannt. Ich war so fix und fertig wie der Schäferhund neben mir und hatte weder die Kraft noch die Lust, mit Claudel irgendwelche blöden Spielchen zu spielen.
»Es ist ein unvollständiges menschliches Skelett, an dem sich so gut wie kein Gewebe mehr befindet. Die Leiche wurde zerstückelt, auf mehrere
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