Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
anschauen, Ryan. Der verdammte Hund benimmt sich wie ein Junkie, der sich schlechten Stoff gespritzt hat.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Pater Poiriers Hand hinauf zu seiner Stirn und dann quer über die Brust fuhr. Der Priester bekreuzigte sich schon wieder.
»Wieso denn das?« fragte Ryan und hob irritiert die Augenbrauen.
»DeSalvo hat ihn übers Grundstück geführt, wie Sie gesagt haben, und da hat das Tier auf einmal angefangen, immer um dieselbe Stelle herumzurennen und zu bellen, als wären dort Adolf Hitler und die ganze deutsche Wehrmacht verscharrt. Hören Sie sich das nur an!«
»Und?«
»Was und? Der arme Kerl ruiniert sich noch seine Stimmbänder. Und wenn er noch weiter so im Kreis rennt, schiebt er sich bald die Nase in den Hintern.«
Das Bild war so komisch, daß ich mir ein Lächeln verkneifen mußte.
»Sagen Sie DeSalvo, daß er ihn noch eine Weile beruhigen soll. Geben Sie ihm einen Schokoriegel oder von mir aus auch ein Valium. Wir müssen uns hier zuerst noch etwas ansehen.« Ryan blickte auf seine Uhr. »Kommen Sie in zehn Minuten wieder.«
Der Polizist zuckte mit den Achseln, ließ den Ast los, den er die ganze Zeit über gehalten hatte, und wandte sich zum Gehen.
»Übrigens, Piquot…«
Der Dicke drehte sich wieder um.
»Da drüben gibt es einen Pfad.«
»Das hätte man mir früher sagen sollen«, schnaubte Piquot und bahnte sich seinen Weg durchs Gestrüpp auf den Pfad zu, den Ryan ihm zeigte. Ich war mir ziemlich sicher, daß er ihn schon nach wenigen Metern nicht mehr erkennen würde.
»Und sehen Sie zu, daß Rin Tin Tin nicht alle Spuren durcheinanderbringt«, rief Ryan dem feisten Polizisten hinterher.
Dann wandte er sich an mich. »Worauf warten Sie noch, Brennan? Auf Ihren Geburtstag vielleicht?«
Während Piquot den Pfad entlangstapfte, schnitt ich den Sack auf.
Diesmal schlug mir der Gestank nicht so unmittelbar entgegen wie bei den Überresten von Isabelle Gagnon, sondern verteilte sich gleichmäßiger und langsamer in der Luft. Anstatt nach verwestem Fleisch roch es eher nach Kompost und feuchter Erde. Dazu gesellte sich ein eigentümlicher, mir vertrauter Geruch, der mich immer an den Kreislauf von Leben und Tod erinnerte. Der Sack enthielt etwas Totes, das schon längere Zeit nicht mehr lebendig war.
Hoffentlich ist das kein Hund oder Reh, dachte ich wieder, während ich den Sack öffnete. Dabei zitterten meine Hände so stark, daß es sich auf die Plastikfolie übertrug. Okay, ich habe es mir anders überlegt. Hoffentlich ist es doch ein Hund oder ein Reh.
Als ich die aufgeschnittene Folie zur Seite schlug, blickten mir Ryan, Bertrand und LaManche über die Schulter. Nur Pater Poirier blieb kerzengerade wie ein Grabstein stehen und bewegte sich nicht von der Stelle.
Zuerst sah ich ein Schulterblatt. Das war zwar noch nicht viel, aber es genügte, um zu wissen, daß ich hier weder ein vergrabenes Stück Wild noch ein Haustier vor mir hatte. Ich blickte nach hinten zu Ryan und sah, daß er die Augen zusammenkniff und seine Kiefermuskeln anspannte.
»Das ist ein menschliches Schulterblatt.«
Pater Poirier schlug ein weiteres Kreuzzeichen.
Ryan holte sein Notizbuch aus der Tasche und schlug eine neue Seite auf. »Und was ist sonst noch drin?« fragte er mit einer Stimme, die so scharf war wie das Taschenmesser, das ich eben verwendet hatte.
Ich trennte vorsichtig die Knochen voneinander. »Rippen, ein weiteres Schulterblatt, zwei Schlüsselbeine, Wirbel…« Ich zählte die Wirbel ab. »Sieht so aus, als wären es nur die Brust- und Lendenwirbel.«
»Und hier ist noch das Sternum«, sagte ich, als ich das Brustbein fand.
Als ich die Knochen voneinander löste, kroch mir eine große, braune Spinne die Hand und den Arm hinauf. Das Tier beäugte mich mißtrauisch, und obwohl sich seine behaarten Beinchen so leicht und zart anfühlten wie ein über die Haut gleitendes Spitzentaschentuch, zuckte ich zusammen und schüttelte es ab.
»Mehr ist nicht drin«, sagte ich, während ich mich aufrichtete und einen Schritt zurücktrat. An den Armen hatte ich eine Gänsehaut, die nicht von der Spinne kam.
Ich ließ meine behandschuhten Hände nach unten baumeln und verspürte nicht die geringste Genugtuung darüber, daß ich recht gehabt hatte. Statt dessen war ich wie betäubt, als stünde ich unter Schock. Meine Gefühle schienen sich verabschiedet zu haben und zum Mittagessen gegangen zu sein. Noch eine Leiche, war alles, was ich dachte. Noch ein Mensch, der
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