Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
den Handschuhen bog ich auf den kaum erkennbaren Pfad ab, der sich so wenig von dem Dickicht ringsum abhob, daß ich ihn ohne die Markierung wohl nicht mehr gefunden hätte. Im Tageslicht war er nichts weiter als ein Streifen niedrigerer Vegetation, die etwas weniger dicht war als die links und rechts davon. Hier standen die Gräser und Büsche weniger eng beieinander, und die Ranken waren etwas lockerer miteinander verwachsen, so daß man zwischen ihnen den laubbedeckten Waldboden sehen konnte.
Ich dachte an die Puzzles, die ich als Kind gerne zusammen mit meiner Großmutter gelegt hatte. Ich hatte die einzelnen Teile genauestens betrachtet und nach dem passenden gesucht, wobei der Erfolg vom Entdecken winzigster Veränderungen in Farbe, Form und Muster abhängig war. Das Finden des Pfades war eine ähnliche Aufgabe. Wie hatte ich ihm bloß in der Dunkelheit folgen können?
Hinter mir hörte ich das Rascheln von Blättern und das Knacken von Zweigen. Ich hatte die anderen mit Absicht nicht auf die Handschuhe aufmerksam gemacht. Sie sollten ruhig meine Fähigkeiten als Pfadfinderin bewundern. Ein paar Meter tiefer im Gebüsch entdeckte ich die Dose mit dem Mückenspray, die ich den anderen allerdings nicht verheimlichen konnte, denn sie leuchtete knallorange wie ein Schiffahrtszeichen aus dem Blättermeer.
Darunter befand sich der Erd- und Laubhaufen, mit dem ich in der Nacht zuvor den Müllsack notdürftig abgedeckt hatte. In der lockeren Erde konnte ich noch die Spuren meiner Hände erkennen. Jetzt, bei Tageslicht, sah ich, daß ich damit die Stelle eher auffälliger gemacht hatte, aber das hatte ich vor ein paar Stunden noch nicht ahnen können.
Die meisten verborgenen Leichen werden aufgrund eines Hinweises oder aus Zufall gefunden. Verbrecher verpfeifen ihre Komplizen, Kinder finden sie beim Indianerspielen. Es roch so komisch, da haben wir angefangen rumzubuddeln. Jetzt kam ich mir wie eines dieser Kinder vor. Es war ein merkwürdiges Gefühl.
»Hier«, sagte ich und deutete auf den Laubhaufen.
»Sind Sie sicher?« fragte Ryan.
Ich sah ihn nur an. Auch die anderen sagten nichts. Ich stellte meinen Rucksack ab und holte ein Paar Gummihandschuhe heraus. Dann ging ich zu dem Haufen, wobei ich darauf achtete, möglichst wenig Spuren zu verwischen. In Anbetracht meiner Aktionen der vergangenen Nacht kam mir das zwar ziemlich absurd vor, aber für die Untersuchung eines Tatortes gibt es nun einmal bestimmte Regeln.
Ich ging in die Hocke und befreite ein kleines Stück des Plastiksacks vom Laub. Ein Großteil des Sacks befand sich noch immer unter der Erde, deren unregelmäßige Konturen daraufhindeuteten, daß sein Inhalt nicht durcheinandergebracht worden war. Als ich mich zu den anderen umdrehte, sah ich, wie Pater Poirier sich bekreuzigte.
»Dann wollen wir mal ein paar Aufnahmen für’s Familienalbum machen«, sagte Ryan zu Cambronne.
Ich trat zurück und sah zu, wie der Polizeiphotograph seine Ausrüstung auspackte, eine Markierungstafel beschriftete und den Haufen mit dem Sack aus allen Richtungen photographierte. Als er fertig war, trat er einen Schritt zurück.
Ryan wandte sich an LaManche. »Der Sack gehört Ihnen, Doc.«
LaManche sah mich an und sagte das erste Wort seit meiner Ankunft: »Temperance?«
Ich nahm eine kleine Schaufel aus meinem Rucksack und trat auf den Haufen zu. Sorgfältig entfernte ich das restliche Laub und legte so viel wie möglich von dem Sack frei. Er sah so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Sogar das kleine Loch, das ich mit dem Daumennagel gerissen hatte, konnte ich entdecken.
Nun griff ich zur Schaufel und begann, vorsichtig die Erde rings um den Sack abzutragen. Der Boden roch muffig und alt, als bestünde er aus toten Tieren und Pflanzen, die kurz nach der letzten Eiszeit verrottet waren.
Bis auf die Geräusche des Polizeiaufgebots draußen auf der Straße, die der Wind ab und zu in den Wald trug, hörte ich rings um mich nur das Zwitschern der Vögel, das Brummen der Insekten und das Kratzen meiner Schaufel. Eine leichte Brise bewegte die Zweige der Bäume und rief Erinnerungen an den Sturm der vergangenen Nacht in mir wach. Allerdings wurden die Äste jetzt nicht mehr wie in einem Kriegstanz hin und her geschleudert, sondern ließen in sanft wiegendem Walzertakt ihre Schatten über den Waldboden und die Gesichter der Männer hinter mir gleiten.
Eine Viertelstunde später hatte sich der Laubhaufen in eine flache Grube verwandelt, in der mehr als die Hälfte
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