Tote Maedchen luegen nicht
»Ein Gewürzbord.« Die Sahne verleiht dem Kaffee eine hellbraune Farbe, während ein paar dunkle Kaffeekörner an die Oberfläche steigen.
»Ich hab immer gedacht, dass du der netteste Junge im ganzen Kurs bist«, sagt sie. »Das fanden damals alle. Ziemlich ruhig, aber das ist okay. Bei mir fanden die Leute eher, dass ich zu viel quatsche.«
Ein Gast räuspert sich am Tresen. Wir schauen beide zu ihm hinüber, doch er ist in die Getränkekarte vertieft.
Sie gibt mir erneut die Hand. »Vielleicht haben wir nächstes Mal ja ein bisschen mehr Zeit, um miteinander zu reden«, sagt sie. Dann geht sie wieder hinter den Tresen.
Das bin ich also: der nette Clay.
Würde sie das immer noch sagen, nachdem sie die Kassetten gehört hat?
Ich gehe durch das Lokal und drücke die Tür auf, die zur Terrasse führt. Auf meinem Weg muss ich mich an zahlreichen Tischen vorbeischlängeln, an denen die Leute ihre Stühle nach hinten gekippt und ihre Beine ausgestreckt haben - ein regelrechter Hindernisparcours, der es mir fast unmöglich macht, meinen Kaffee nicht zu verschütten.
Ein warmer Kaffeetropfen landet auf meinem Finger, läuft mir über die Knöchel und fällt auf den Boden. Mit der Schuhspitze reibe ich ihn weg. In diesem Moment muss ich an den Zettel denken, der vorhin vor dem Schuhgeschäft auf den Boden fiel.
Nach Hannahs Selbstmord, doch bevor ich den Schuhkarton
mit den Kassetten bekam, ertappte ich mich des Öfteren dabei, wie ich am Schuhgeschäft ihrer Eltern vorbeiging. Vor allem wegen dieses Geschäfts waren sie damals hierhergezogen. Nach dreißig Jahren wollte der alte Eigentümer seinen Laden verkaufen. Hannahs Eltern nutzten die Gelegenheit und übernahmen ihn.
Ich bin mir nicht sicher, warum ich so oft an dem Schuhgeschäft vorbeiging. Vielleicht habe ich irgendeine Verbindung zu ihr gesucht, eine Verbindung, die nichts mit der Schule zu tun hatte, und dies war die einzige Möglichkeit, die mir einfiel. Ich suchte nach Antworten auf Fragen, die ich nie gestellt habe. Über ihr Leben. Über alles.
Damals wusste ich nicht, dass die Kassetten später alles erklären würden. Am Tag nach ihrem Selbstmord stand ich zum ersten Mal vor der Eingangstür des Geschäfts. Drinnen war es dunkel. Am Schaufenster klebte ein Zettel, auf dem in dicker schwarzer Schrift WIR ÖFFNEN GLEICH geschrieben stand.
Der Zettel schien in aller Eile geschrieben worden zu sein.
Ein Zulieferer hatte an der Glastür eine selbstklebende Benachrichtigungskarte hinterlassen. »Versuche es morgen wieder« war angekreuzt.
Als ich wenige Tage später zurückkehrte, klebten noch viel mehr Nachrichten an der Scheibe.
Vorhin, nach der Schule, bin ich ein weiteres Mal an dem Geschäft vorbeigegangen. Als ich die Termine und Nachrichten auf den Zetteln las, löste sich einer von der Scheibe, segelte zu Boden und blieb neben meinem Schuh liegen. Ich hob ihn auf und suchte die Tür nach der jüngsten Nachricht ab. Ich hob den Zettel an der Ecke an und klemmte den älteren darunter.
Sie werden bestimmt bald wieder da sein, dachte ich. Die Beerdigung findet wahrscheinlich an ihrem alten Wohnort statt. Es ist ja etwas anderes, wenn ein Mensch schon sehr alt ist oder Krebs hat - aber mit Selbstmord hat wirklich niemand gerechnet. Sie hatten keine Gelegenheit gehabt, sich irgendwie darauf vorzubereiten.
Ich öffne die Terrassentür des Monet’s und achte darauf, nicht noch mehr Kaffee zu verschütten.
Die Terrasse ist in ein gemütliches, schummriges Licht getaucht. Jeder Tisch - auch Hannahs im hintersten Winkel - ist besetzt. Dort sitzen drei Jungen mit Baseballcaps, die schweigend über ihre Schulhefte und -bücher gebeugt sind.
Ich gehe wieder hinein und setze mich an einen kleinen Tisch in der Nähe des Fensters. Von hier aus kann ich die Terrasse überblicken, doch Hannahs Tisch wird von einem efeuüberwucherten Pfeiler verdeckt.
Ich atme tief durch.
Bisher war ich erleichtert, dass mein Name auf den Kassetten noch nicht erwähnt wurde. Doch fürchte ich mich vor dem, was noch kommen mag, wenn ich an der Reihe bin.
Denn irgendwann werde ich an der Reihe sein. Ich weiß es. Und ich will es bald hinter mich bringen.
Was habe ich dir getan, Hannah?
Während ich auf ihre Stimme warte, starre ich aus dem Fenster. Draußen ist es dunkler als hier drinnen. In der Scheibe erkenne ich das Spiegelbild meiner eigenen Augen.
Ich wende den Blick ab.
Ich betrachte den Walkman, der vor mir auf dem Tisch liegt. Obwohl ich auf »Play«
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