Tote Maedchen luegen nicht
wir unterhielten uns mindestens eine weitere Stunde lang. Drei Leute, die froh darüber waren, an ihrem ersten Schultag nicht allein durch die Flure streichen zu müssen. In der Mittagspause nicht allein zu sein. Sich nicht verloren zu fühlen.
Obwohl es keine Rolle spielt, frage ich mich, in welcher Linie ich sitze. Fährt der Bus aus der Stadt heraus oder dreht er in den Straßen des Zentrums seine immergleichen Runden?
Vielleicht hätte ich das überprüfen sollen, bevor ich eingestiegen bin.
Dieser Nachmittag im Monet’s war für uns alle eine große Erleichterung. So oft war ich voller Angst eingeschlafen, weil ich nicht wusste, was mich am ersten Schultag erwartete. Doch nach dem Nachmittag im Monet’s war alles anders. Jetzt war ich voller gespannter Erwartung.
Dabei habe ich Jessica und Alex niemals als meine Freunde betrachtet. Nicht mal am Anfang, als ich mich darüber gefreut hätte, automatisch zwei neue Freunde bekommen zu haben.
Und ich weiß, dass es ihnen genauso ging, weil wir darüber
gesprochen haben. Wir haben über unsere alten Freunde gesprochen: warum sie unsere Freunde geworden waren und was wir uns auf der neuen Schule von unseren neuen Freunden erwarten.
Doch in diesen ersten Wochen, ehe wir unserer eigenen Wege gingen, war das Monet’s Garden unsere Oase. Wenn irgendjemand von uns was auf dem Herzen hatte, trafen wir uns dort auf der Terrasse, am letzten Tisch auf der rechten Seite.
Ich weiß nicht mehr, wann das angefangen hat, doch wer von uns den anstrengendsten Tag hinter sich hatte, der legte seine Hand auf die Tischplatte und sagte: »Einer für alle - alle für einen!« Die beiden anderen legten jeweils eine Hand darauf. Dann hörten wir zu und nippten an unseren Getränken, die wir mit der freien Hand hielten. Jessica und ich tranken wie üblich unsere heiße Schokolade. Alex arbeitete sich im Laufe der Zeit durch die gesamte Getränkekarte.
Ich bin nur ein paar Mal im Monet’s gewesen, aber ich glaube, es befindet sich in der Straße, die der Bus gerade entlangfährt.
Wir waren echt ziemlich sentimental. Tut mir leid, wenn ihr diese Episode albern findet. Aber das Monet’s füllte damals eine Leere in unserem Leben aus. Für jeden von uns.
Aber keine Sorge... diese Phase hielt nicht lange an.
Ich schiebe mich auf den Platz am Gang und stehe während der Fahrt auf.
Der Erste, der sich aus unserem Kreis verabschiedete, war Alex. In der Schule gingen wir weiter nett miteinander um, wenn wir uns mal auf dem Flur begegneten, aber das war’s dann auch.
Jedenfalls was uns beide betraf.
Indem ich mich an den Rückenlehnen abstütze, gehe ich durch den schwankenden Bus nach vorne.
Unser Verhältnis hat sich dann auch schnell abgekühlt, Jessica. Wir redeten nur noch belangloses Zeug.
»Wo ist die nächste Haltestelle?« Ich spüre, wie die Wörter aus meiner Kehle dringen, doch werden sie vollkommen von Hannahs Stimme und dem Brummen des Motors übertönt.
Die Fahrerin sieht mich im Rückspiegel an.
Als Jessica aufhörte, ins Monet’s zu kommen, habe ich noch ein paar Mal dort vorbeigeschaut - in der Hoffnung, einen von beiden dort anzutreffen, doch irgendwann hab ich’s dann auch aufgegeben.
Bis ...
»Die anderen Leute hier schlafen alle«, sagt die Fahrerin. Ich lese ihre Lippen, um sicherzugehen, dass ich sie richtig verstehe. »Ich kann halten, wo Sie möchten.«
Das Gute an Jessicas Geschichte ist übrigens die Tatsache, dass sie sich fast ausschließlich an einem Ort abspielt. Dadurch habt ihr weniger Mühe mit den Sternen.
Der Bus fährt am Monet’s vorbei. »Hier, bitte«, sage ich.
Ich habe Jessica das erste Mal in Ms Antillys Büro getroffen. Doch kennengelernt haben wir uns im Monet’s.
Ich halte mich gut fest, während der Bus abbremst und am Bordstein anhält.
Auch Alex haben wir im Monet’s kennengelernt. Und dann ... dann ist Folgendes passiert.
Die Türen gleiten zischend auf.
Eines Tages kam Jessica in der Schule auf mich zu. »Wir müssen reden«, sagte sie. Sie erwähnte zwar weder, worum es ging, noch wo sie mich sprechen wollte, doch ich tippte auf das Monet’s und ahnte auch, was sie von mir wollte.
Ich gehe die Stufen hinunter und betrete den Bürgersteig. Während ich den Kopfhörer zurechtrücke, setze ich mich in Bewegung.
Als ich dort ankam, saß sie zusammengesunken auf einem Stuhl und ließ die Arme hängen, als wartete sie schon eine Ewigkeit auf mich. Vielleicht hatte sie gehofft, ich würde die letzte Stunde sausen
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