Tote Maedchen luegen nicht
Beispiel?
Weißt du, was unter »Schnappschuss« im Lexikon steht? »Momentaufnahme, mit der eine gerade sich ergebende Situation, eine spontane Handlung oder ein natürlicher Bewegungsablauf im Bild festgehalten wird.«
Erzähl mir, Tyler, ob ich spontan genug war in all den Nächten, die du vor meinem Fenster verbracht hast. Ist es dir gelungen, meine Natürlichkeit einzufangen?
Warte mal, hörst du das Geräusch?
Ich setze mich auf und stütze meine Ellbogen auf die Tischplatte.
Ein Auto nähert sich auf der Straße.
Ich presse meine Hände auf die Ohren, um die Außengeräusche abzuschirmen.
Bist du das, Tyler? Das Motorgeräusch wird lauter. Ich erkenne die Scheinwerfer.
Jetzt höre ich ebenfalls das Brummen eines Motors.
Mein Herz signalisiert mir, dass du das bist. Mein Gott, wie heftig es pocht. Jetzt rollt der Wagen die Auffahrt hinauf.
Durch ihre Stimme hindurch höre ich die Reifen, die über das Pflaster rollen. Der Motor befindet sich im Leerlauf.
Du bist es, Tyler. Du bist es tatsächlich. Du hast den Motor nicht ausgeschaltet, also kann ich noch weiterreden. Die Situation ist wirklich spannend. Jetzt verstehe ich, was dich daran gereizt hat.
Es muss furchtbar für ihn gewesen sein, sich das anzuhören. Und vermutlich leidet er Höllenqualen, weil er weiß, dass er nicht der Einzige ist.
Okay, alle aufgepasst! Die Autotür öffnet sich ... Pst!
Eine lange Pause. Sie atmet ruhig. Kontrolliert.
Eine Tür schlägt. Schlüssel klappern. Schritte. Eine andere Tür wird aufgeschlossen.
Okay, Tyler. Hier kommt mein detaillierter Bericht: Du bist ins Haus gegangen, hast die Tür hinter dir zugezogen. Entweder erzählst du gerade deinen Eltern, wie toll alles war und dass das nächste Jahrbuch das beste aller Zeiten wird, oder du bist direkt in die Küche gegangen, weil ihr für euer Treffen zu wenig Pizza besorgt hattet.
Während ich abwarte, kann ich euch ja mal erzählen, wie alles angefangen hat. Falls ich mich bei der Zeitdauer irre, Tyler, gehe ich davon aus, dass du die anderen Leute auf diesen Kassetten persönlich aufsuchst und ihnen berichtest, wie lange du mich heimlich beobachtest hast.
Darauf kann ich mich doch verlassen, oder? Ich rechne damit, dass ihr alle später die Lücken füllt, die ich hinterlasse. Denn jede Geschichte, die ich erzähle, birgt eine Menge unbeantworteter Fragen.
Unbeantwortet? Ich hätte dir jede Frage beantwortet, Hannah, aber du hast nie gefragt.
Zum Beispiel diese: Wie lange hast du mich belauert, Tyler? Woher wusstest du, dass meine Eltern in dieser Woche verreist waren?
Statt Fragen zu stellen, hast du mich damals auf der Party plötzlich angeschrien.
Ich will euch Folgendes anvertrauen: Wenn meine Eltern verreist sind, dann darf ich mich nicht mit Jungs treffen. Sie haben wahrscheinlich Angst, ich könnte sie nachher zu mir nach Hause einladen - obwohl sie das nie zugeben würden.
In den bisherigen Geschichten habe ich immer wieder betont,
dass an den Gerüchten, die über mich in Umlauf sind, nichts dran ist. Das stimmt auch. Aber ich habe nie behauptet, dass ich die Tugendhaftigkeit in Person bin. Klar habe ich mich verabredet, während meine Eltern verreist waren, aber nur weil ich dann so lange wegbleiben konnte, wie ich wollte. Und wie du weißt, Tyler, hat mich der Junge, mit dem ich damals aus war, bis zur Haustür begleitet. Dort blieb er so lange stehen, bis ich meinen Schlüssel herausgeholt hatte, um aufzuschließen. Dann ist er gegangen.
Ich will lieber nicht aufblicken, doch frage ich mich, ob die anderen Gäste nicht längst zu mir herüberschauen. Vielleicht verrät meine Mimik, dass es keine Musik ist, der ich lausche.
Aber vielleicht nimmt auch niemand Notiz von mir. Warum sollten sie? Warum sollten sie sich fragen, was ich mir anhöre?
In Tylers Zimmer brennt immer noch kein Licht, also führt er entweder ein langes Gespräch mit seinen Eltern oder er ist immer noch hungrig. Mach, was du willst, Tyler. Dann rede ich eben weiter über dich.
Hast du darauf gehofft, dass ich den Jungen ins Haus bitte? Oder hätte dich das eifersüchtig gemacht?
Ich rühre mit dem Holzstäbchen in meinem Kaffee.
Wie dem auch sei, nachdem ich - allein! - hineingegangen bin, habe ich mir das Gesicht gewaschen und die Zähne geputzt. Als ich dann in mein Zimmer kam, habe ich das Klicken gehört.
Wir alle kennen das Geräusch einer Kamera, wenn jemand auf den Auslöser drückt. Sogar manche Digitalkameras geben aus nostalgischen Gründen dieses
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