Tote Maedchen luegen nicht
gedrückt habe, ist immer noch
nichts zu hören. Vielleicht ist die Kassette nicht richtig eingerastet.
Also drücke ich die Stopptaste.
Dann wieder auf »Play«.
Nichts.
Ich rolle meinen Daumen über das Rädchen, mit dem man die Lautstärke reguliert. Nur das Rauschen wird lauter, also drehe ich das Rädchen wieder zurück. Ich warte.
Pst!... ihr müsst leise sein, wenn ihr in der Bibliothek seid ...
Ihre Stimme ist nur ein Flüstern.
... in einem Kino oder in der Kirche.
Ich lausche angestrengt.
Manchmal ist niemand in der Nähe, der einem sagt, dass man sich vollkommen ruhig verhalten soll. Manchmal muss man das, wenn man allein ist. So wie ich in diesem Moment.
Pst!
An den voll besetzten Tischen um mich herum wird viel geredet. Aber die einzigen Worte, die ich verstehe, sind die von Hannah. Alles andere ist nur ein dumpfes Hintergrundgeräusch, das hin und wieder von einem lauten Lachen durchbrochen wird.
Man sollte zum Beispiel mucksmäuschenstill sein, wenn man ein Spanner ist. Denn was ist, wenn sie dich hören?
Ich stoße erleichtert die Luft aus. Wieder ist nicht von mir die Rede.
Was ist, wenn sie... wenn ich... dir auf die Schliche gekommen bin?
Ich hab dich erwischt, Tyler Down.
Ich lehne mich zurück und schließe die Augen.
Tut mir leid für dich, Tyler. Wirklich. Alle anderen, die auf diesen Kassetten vorkommen - zumindest bis jetzt -, müssen ein wenig erleichtert sein. Denn sie wurden ja nur als Lügner, Dummköpfe oder schwache Persönlichkeiten entlarvt. Dein Part, Tyler, ist schon etwas unheimlicher ...
Ich nehme den ersten Schluck von meinem Kaffee.
Tyler? Ein Spanner? Das hätte ich nie gedacht.
Und auch ich habe in diesem Moment ein mulmiges Gefühl, weil ich versuche, mich in dich hineinzuversetzen, Tyler. Ich versuche, die Spannung nachzuvollziehen, die es mit sich bringt, bei jemand anders durchs Schlafzimmerfenster zu schauen. Jemanden zu beobachten, der nicht weiß, dass er beobachtet wird. Jemanden zu erwischen, der gerade ...
Wobei wolltest du mich erwischen, Tyler? Und warst du enttäuscht? Oder freudig überrascht?
Bitte alle mal die Hand heben, die wissen, wo ich gerade bin!
Ich stelle meinen Becher ab, beuge mich vor und versuche, mir vorzustellen, wie sie ihre Stimme auf Kassette aufnimmt.
Wo mag sie nur sein?
Wer von euch weiß, wo ich gerade stehe?
Dann komme ich plötzlich darauf, schüttele den Kopf und schäme mich für ihn.
Wer von euch »vor Tylers Schlafzimmerfenster« gesagt hat, der liegt ganz richtig. A4 auf eurer Karte.
Tyler ist im Moment nicht zu Hause... aber seine Eltern sind da, und ich hoffe wirklich, dass sie nicht rauskommen. Zum
Glück befindet sich unterhalb seines Fensters ein hoher, breiter Busch, hinter dem ich mich ziemlich sicher fühle.
Wie fühlst du dich, Tyler?
Ich kann mir nicht vorstellen, mit welchem Gefühl er diese Kassetten weitergeschickt hat. Im Bewusstsein, sein Geheimnis preiszugeben.
Ich weiß, dass sich heute die Mitarbeiter des Jahrbuchs treffen, was unter Garantie jede Menge Pizza und Geschwätz mit sich bringt. Du wirst also nicht nach Hause kommen, ehe alles still und dunkel ist. Was ich als Hobbyspannerin natürlich sehr zu schätzen weiß.
Also schönen Dank, Tyler. Danke, dass du es mir so einfach machst.
Saß Tyler im Monet’s, als er dies hörte - im krampfhaften Bemühen, sich nichts anmerken zu lassen, während ihm gleichzeitig der Schweiß ausbrach? Oder lag er im Bett und glotzte aus dem Fenster?
Lasst uns schon mal einen Blick in dein Zimmer werfen, solange du noch nicht da bist. Da das Licht im Flur brennt, kann ich genug erkennen. Und ich sehe genau das, was ich erwartet habe - überall liegen Teile deiner Fotosausrüstung herum.
Wirklich eine beeindruckende Sammlung, Tyler. Für jede Gelegenheit ein anderes Objektiv.
Sogar ein Nachtobjektiv. Mit dieser Linse hat Tyler einen landesweiten Fotowettbewerb gewonnen. Erster Preis in der Kategorie Humor. Ein alter Mann geht im Dunkeln mit seinem Hund spazieren. Tyler hat den Hund fotografiert, während dieser an einen Baum pinkelt. Auf dem Foto sieht das aus wie ein grüner Laserstrahl.
Ich kann mir vorstellen, was du jetzt sagst: »Die sind doch alle für das Jahrbuch, Hannah. Ich dokumentiere das Leben
der Schüler.« Ich bin mir sicher, dass deine Eltern deshalb auch so viel Geld dafür haben springen lassen. Aber benutzt du deine Kamera nicht auch noch für andere Zwecke? Für heimliche Schnappschüsse von Mitschülern zum
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