Tote Maedchen luegen nicht
wie ich schon sagte, kann Marcus sehr witzig sein. Wir saßen also in einer geschützten Nische, hatten dem Lokal den Rücken zugekehrt und lachten. Einmal musste ich so doll lachen, dass mein Bauch wehtat. Ich krümmte mich zusammen, wobei meine Stirn seine Schulter berührte, und bat ihn aufzuhören.
Die Ampel blinkt immer noch und fordert mich auf, mich zu entscheiden. Mich zu beeilen. Ich habe immer noch Zeit genug, über die Straße zu rennen und den Parkplatz zu überqueren, der mich vom Rosie’s trennt.
Doch ich bleibe stehen.
In diesem Moment berührte seine Hand mein Knie. In diesem Moment wusste ich Bescheid.
Die Ampel hört auf zu blinken und leuchtet jetzt rot.
Ich drehe mich um. Ich kann dort nicht reingehen. Noch nicht.
Ich lachte nicht mehr. Fast hörte ich auf zu atmen. Aber meine Stirn blieb an deiner Schulter, Marcus. Plötzlich war deine Hand auf meinem Knie. Wie aus dem Nichts. Genau wie damals im Blue Spot.
»Was machst du da?«, flüsterte ich.
»Soll ich weitermachen?«, hast du gefragt.
Ich habe nicht geantwortet.
Ich presse die Hand gegen den Bauch. Das ist zu viel für mich.
Gleich werde ich ins Rosie’s gehen. Hoffentlich ist meine Mutter noch nicht da.
Doch zuerst muss ich dem Filmtheater, in dem Hannah und ich einen Sommer lang gejobbt haben, einen Besuch abstatten. Dem Crestmont. Dort war sie in Sicherheit.
Doch auch jetzt rührte ich mich nicht vom Fleck.
Es kam mir so vor, als hätte deine Schulter keine Verbindung zu deinem übrigen Körper. Sie war nur eine Stütze für meinen Kopf, während ich zu begreifen versuchte, was hier vor sich ging. Ich schaute wie gebannt auf deine Fingerspitzen, die mein Knie streichelten... und langsam nach oben wanderten.
»Warum machst du das?«, fragte ich.
Das Kino ist nur einen Block weiter und vielleicht trägt es ja gar keinen Stern auf der Karte. Sollte es aber.
Das wäre mein roter Stern.
Deine Schulter drehte sich und ich hob meinen Kopf, doch inzwischen hattest du eine Hand hinter meinen Rücken geschoben und zogst mich an dich heran. Deine andere Hand lag auf meinem Oberschenkel.
Ich schaute zu den anderen Nischen und zur Bar hinüber und versuchte, mit irgendjemandem Blickkontakt aufzunehmen. Einige Leute sahen in unsere Richtung, wandten aber sofort ihre Köpfe ab.
Unter dem Tisch habe ich versucht, deine Finger abzuwehren. Mich aus deinem Griff zu befreien. Dich wegzustoßen. Ich wollte nicht schreien - so weit war ich noch nicht -, aber meine Augen suchten fieberhaft nach Hilfe.
Ich stecke die Hände in die Taschen und balle die Fäuste. Am liebsten hätte ich auf eine Wand eingeprügelt oder ein Schaufenster eingeschlagen. Ich habe noch nie jemandem Gewalt zugefügt, doch heute Abend hätte ich Marcus am liebsten die Fresse poliert.
Doch alle schauten weg. Niemand fragte, ob ich ein Problem hätte.
Warum nur? Waren sie so höflich, dass sie sich nicht einmischen wollten?
War es auch bei dir reine Höflichkeit, Zach?
Zach? Schon wieder? Er war doch schon auf der ersten Kassette aufgetaucht, als er in Hannahs Vorgarten der Länge nach hinfiel. Dann hat er Hannah und mich auf Kats Abschiedsparty gestört.
Ich hasse das. Ich habe keine Lust mehr herauszufinden, wie alles zusammenhängt.
»Hör auf!«, sagte ich. Und ich weiß, dass du mich gehört hast, weil mein Mund nur Zentimeter von deinem Ohr entfernt war, während ich über die Rückenlehne blickte. »Hör auf!«
Das Crestmont. Ich biege um die Ecke, und schon sehe ich es. Eine der wenigen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Es ist das letzte Art-déco-Filmtheater im gesamten Bundesstaat.
»Keine Angst«, sagtest du. Und als wüsstest du, dass du nur wenig Zeit hast, wanderte deine Hand von meinem Oberschenkel schnell weiter nach oben. Ganz nach oben.
Ich stieß dich so heftig in die Seite, dass du auf den Boden gefallen bist.
Wenn jemand aus einer Nische heraus auf den Boden fällt, sieht das natürlich lustig aus. Also habe ich eigentlich erwartet, dass irgendjemand zu lachen beginnt. Es sei denn, allen ist klar, dass es kein Missgeschick war. Offenbar war das der Fall. Die Leute wussten, dass irgendwas in unserer Nische vor sich ging, hatten aber keine Lust, sich darum zu kümmern.
Vielen Dank auch.
Das geschwungene Vordach ragt weit über den Bürgersteig. Der verzierte Schriftzug erhebt sich in die Luft wie eine elektrische Pfauenfeder. Die einzelnen Buchstaben leuchten nacheinander auf, als würde jemand ein Kreuzworträtsel mit Neonlicht
Weitere Kostenlose Bücher