Tote Maedchen luegen nicht
Rosie’s, der von Schwarz-Weiß-Fotos aus den letzten vier Jahrzehnten begleitet wird. Ich blättere um, doch noch will ich nichts bestellen.
Fünfzehn Minuten. So lange sollen wir mit der Bestellung warten, hat Hannah gesagt.
Als meine Mutter mich anrief, war ich in einer merkwürdigen Verfassung, und ich bin sicher, dass sie mir das angemerkt hat. Doch wird sie das dazu bringen, sich unterwegs die Kassetten anzuhören?
Ich bin so ein Idiot! Ich hätte ihr sagen sollen, dass ich die Kassetten abhole. Stattdessen muss ich jetzt hier auf sie warten, ohne zu wissen, was das für Folgen haben wird.
Der Junge, der Popcorn gegessen hat, fragt nach dem Schlüssel
für die Toilette. Der Barkeeper zeigt zur Wand. Dort hängen zwei Schlüssel an Messinghaken. An einem von ihnen ist ein blauer Plastikhund, am anderen ein rosa Elefant befestigt. Er greift nach dem blauen Plastikhund und geht den Flur hinunter.
Nachdem der Barkeeper die Plastikwannen unter die Theke gestellt hat, schraubt er die Deckel einiger Pfeffer- und Salzstreuer ab. Er schenkt mir keine Beachtung und das ist auch gut so.
»Hast du schon was bestellt?«
Ich fahre herum. Meine Mutter sitzt neben mir und hat sich auch eine Speisekarte genommen. Vor ihr auf der Theke steht Hannahs Schuhkarton.
»Willst du bleiben?«, frage ich sie.
Wenn sie bleibt, können wir reden. Soll mir recht sein. Dann bin ich jedenfalls für eine Weile abgelenkt.
Sie schaut mir in die Augen und lächelt. Dann streicht sie sich über den Bauch und macht ein skeptisches Gesicht. »Ich glaube, das wäre keine gute Idee.«
»Du bist doch nicht zu dick, Mum.«
Sie schiebt den Schuhkarton zu mir herüber. »Wo ist dein Freund? Habt ihr nicht zusammen gearbeitet?«
Ach ja, das Schulprojekt. »Der... der ist nur kurz auf die Toilette gegangen.«
Sie blickt für einen Moment über meine Schulter hinweg.
Vielleicht irre ich mich, doch ich glaube, sie hat kurz nachgeschaut, ob beide Schlüssel an ihren Haken hängen.
Gott sei Dank tun sie das nicht.
»Hast du genug Geld?«, fragt sie.
»Wofür?«
»Na für das Essen.« Sie legt ihre Karte zurück und tippt mit
der Fingerspitze auf meine. »Der Schokoshake mit Malzgeschmack ist unschlagbar!«
»Warst du etwa schon mal hier?«, frage ich verdutzt. Ich habe noch nie einen Erwachsenen im Rosie’s gesehen.
Mum lacht. Sie legt mir eine Hand auf den Kopf und glättet mit dem Daumen meine Stirnfalten. »Schau nicht so überrascht, Clay. Das Rosie’s gibt’s doch schon ewig.« Sie legt einen Zehndollarschein auf den Schuhkarton. »Du solltest wirklich den Schokoshake probieren.«
In diesem Moment öffnet sich quietschend die Toilettentür. Ich drehe den Kopf und sehe, wie der Junge den blauen Hundeschlüssel wieder an den Haken hängt. Er entschuldigt sich bei seiner Freundin, dass es so lange gedauert hat, und küsst sie auf die Stirn.
»Clay?«, sagt Mum.
Bevor ich mich ihr wieder zuwende, schließe ich kurz die Augen und hole tief Luft. »Ja?«
»Bleib nicht zu lange.« Ihr Lächeln sieht ein wenig gequält aus.
Noch vier Kassetten. Sieben Geschichten. Wann wird mein Name auftauchen?
Ich schaue ihr in die Augen. »Es könnte schon noch ein bisschen dauern.« Dann blicke ich nach unten. Auf die Speisekarte. »Ist ein Schulprojekt.«
Sie entgegnet nichts, doch aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, dass sie die Hand hebt. Ich schließe die Augen und spüre, wie ihre Finger über mein Haar bis zum Nacken gleiten.
»Pass auf dich auf«, sagt sie.
Ich nicke.
Dann geht sie.
Ich öffne den Schuhkarton und rolle die Kassetten aus der Luftpolsterfolie. Mum hat sie nicht angerührt.
Das beliebteste Fach von allen... okay, das beliebteste Pflichtfach ist Kommunikation, das selbst dann jeder belegen würde, wenn es ein Wahlfach wäre, weil man eine gute Note sicher hat.
Und meistens macht es auch noch Spaß. Das ist für mich Grund genug.
Man bekommt nur wenige Hausaufgaben und für die mündliche Mitarbeit gibt’s Zusatzpunkte. Man wird regelrecht dazu animiert, in den Unterricht hineinzurufen. Was soll man da nicht mögen?
Ich bücke mich und hieve meinen Rucksack auf den Stuhl, auf dem eben noch meine Mutter gesessen hat.
In Kommunikation habe ich mich sicher und frei gefühlt, auch wenn ich mir ansonsten immer mehr wie eine Außenseiterin vorkam. Wenn ich das Klassenzimmer betrat, hätte ich am liebsten meine Arme ausgebreitet und gerufen: Einer für alle - alle für einen!
Ich schlage die drei Kassetten, die ich
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