Tote Maedchen luegen nicht
Hülle aus Fleisch und Knochen
und erkenne
allein
meine Seele
Jetzt wisst ihr warum.
Haben eure Lehrer das Gedicht gründlich interpretiert? Waren sie auf der richtigen Spur? Hattet ihr irgendeinen Hinweis, dass es von mir sein könnte?
Ja, einige schon. Ryan muss es jemandem erzählt haben - aus Stolz, dass sein »Fund« zum Unterrichtsthema wurde. Doch wenn Leute mich darauf ansprachen, stritt ich alles ab. Was manche richtig wütend machte.
Einige von euch haben sogar Parodien auf mein Gedicht geschrieben, die sie mir vorlasen, um mich aus der Reserve zu locken.
Ich war dabei. Zwei Mädchen haben solche Parodien im Klassenzimmer laut vorgelesen, bevor Mr Porter hereinkam.
Das alles war so kindisch und dumm... und brutal.
Sie waren unerbittlich. Eine ganze Woche lang haben sie jeden Morgen eine neue Parodie vorgelesen. Hannah hat sich nichts anmerken lassen und so getan, als würde sie lesen, während sie darauf wartete, dass Mr Porter endlich ins Klassenzimmer kam.
Hört sich eigentlich alles halb so schlimm an, oder?
Für euch vielleicht. Aber es bedeutete, dass die Schule für mich kein sicherer Ort mehr war. Nach deinen Fotoeskapaden, Tyler, konnte ich mich auch zu Hause nicht mehr sicher fühlen.
Und jetzt waren sogar meine Gedanken der Lächerlichkeit preisgegeben.
Als Hannah wieder einmal von den beiden Mädchen in Mr Porters Klasse provoziert wurde, hob sie ihren Kopf. Für einen kurzen Moment hatten wir Blickkontakt. Doch obwohl dies niemand mitbekam, wandte ich den Kopf ab.
Ließ sie allein.
Vielen Dank, Ryan. Du bist ein wahrer Poet.
Ich ziehe die Stöpsel aus meinen Ohren und hänge mir den Kopfhörer um den Hals.
»Ich weiß zwar nicht, was mit dir los ist«, sagt der Barkeeper, »aber ich will dein Geld nicht.«
Er bläst in einen Strohhalm und kneift die beiden Enden zusammen.
Ich schüttele den Kopf und greife zu meinem Portemonnaie. »Nein, nein, ich zahle.«
Er dreht den Strohhalm immer enger zusammen. »Ich meine es ernst. Du hast ja nur einen Milkshake getrunken. Und wie ich schon sagte, ich weiß nicht, was mit dir los ist, und ich weiß auch nicht, wie ich dir helfen kann, doch offensichtlich hast du gerade irgendein Problem, also will ich, dass du dein Geld behältst.« Er sieht mir in die Augen, und ich weiß, dass er es ernst meint.
Abgesehen davon dass ich nicht weiß, was ich sagen soll, ist mir die Kehle so zugeschnürt, dass ich kein Wort herausbekomme.
Ich nicke ihm zu, schnappe mir meinen Rucksack und wechsele die Kassette, während ich zur Tür gehe.
KASSETTE 5: SEITE A
Die Glastür des Rosie’s schließt sich hinter mir. Unmittelbar darauf werden drei Riegel vorgeschoben.
Wohin? Nach Hause? Zurück ins Monet’s? Oder doch zur Bibliothek? Ich könnte mich draußen auf die Stufen setzen und im Dunkeln die restlichen Kassetten anhören.
»Clay!«
Es ist Tonys Stimme.
Helle Autoscheinwerfer leuchten dreimal auf. Tony streckt seine Hand aus dem Fenster und winkt mich zu sich herüber. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke nach oben und gehe zu ihm. Doch ich strecke meinen Kopf nicht zu ihm hinein. Mir ist nicht nach Reden zumute. Nicht jetzt.
Tony und ich kennen uns schon seit Jahren, haben gemeinsam an verschiedenen Projekten gearbeitet und nach dem Unterricht herumgealbert. Doch in all der Zeit haben wir noch nie ein ernsthaftes Gespräch geführt. Jetzt fürchte ich, dass er genau das tun will. Er hat die ganze Zeit über in seinem Auto gesessen und gewartet. Was sollte er sonst wollen?
Doch er sieht mich nicht an. Stattdessen justiert er mit dem Daumen den Seitenspiegel. Dann schließt er die Augen und lässt seinen Kopf nach vorne fallen. »Steig ein, Clay!«
»Ist alles in Ordnung?«
Nach einer kurzen Pause nickt er verhalten.
Ich gehe um die Kühlerhaube herum, öffne die Beifahrertür und setze mich hin, wobei ich einen Fuß auf dem Asphalt lasse.
Den Rucksack, in dem sich Hannahs Schuhkarton befindet, lege ich auf meinen Schoß.
»Mach die Tür zu!«, sagt er.
»Wo willst du hin?«
»Keine Sorge. Mach einfach die Tür zu.« Er kurbelt seine Scheibe nach oben. »Kalt draußen.« Sein Blick wandert vom Armaturenbrett zum Radio und weiter zum Lenkrad. Aber er sieht mich nicht an.
Als ich die Tür schließe, legt er sofort los:
»Du bist die neunte Person, der ich folgen musste.«
»Wovon redest du?«
»Vom zweiten Satz der Kassetten«, antwortet er. »Hannah hat nicht geblufft. Ich habe sie.«
»Oh nein!« Ich halte mir beide
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