Tote Maedchen luegen nicht
wieder damit anzufangen. Meine eigenen Gedichte sollten mich fröhlich machen.
Fröhliche Gedichte sollten es werden. Helle, sonnendurchflutete Gedichte. So heiter und unbeschwert wie die beiden Frauen, die auf dem Flyer des Monet’s abgebildet sind.
Es gab damals einen Kurs mit dem Titel »Lyrik: Die Kunst, das Leben zu lieben«. Der Kurs wollte nicht nur die Liebe zur Lyrik fördern, sondern den Teilnehmern vor allem zeigen, wie man mithilfe der Lyrik die Liebe zu sich selbst neu entdecken kann.
Natürlich habe ich mich sofort angemeldet!
D7 auf eurer Karte. Der Seminarraum der städtischen Bibliothek.
Es ist zu dunkel, um jetzt dorthin zu gehen.
Weil der Lyrikkurs in dem Moment begann, in dem die letzte Schulstunde beendet war, bin ich immer sofort zur Bibliothek rübergerast, um nicht zu spät zu kommen. Doch selbst wenn ich zu spät kam, schienen alle froh über mein Erscheinen zu sein, weil ich den Kurs um die »weibliche Teenie-Perspektive« erweiterte, wie sie sich ausdrückten.
Als ich mich umblicke, bemerke ich, dass ich der letzte Gast im Rosie’s bin. In dreißig Minuten machen sie zu. Und obwohl ich nichts mehr esse oder trinke, hat mich der Barkeeper immer noch nicht zum Gehen aufgefordert. Also bleibe ich noch ein bisschen.
Stellt euch zehn bis zwölf orangefarbene Stühle vor, die im Halbkreis um einen weiteren Stuhl angeordnet sind, auf dem die eine heitere Frau von dem Flyer sitzt. Von Heiterkeit war bei ihr allerdings nichts zu spüren. Wer auch immer den Flyer hergestellt hat, muss ihre hängenden Mundwinkel digital nach oben gezogen haben.
Sie schrieben über den Tod. Über die Bosheit der Männer. Und über den Untergang der Erde. Ich zitiere: »... dieses grünblauen Gestirns mit seinen weißen Strähnen.«
So hat jemand die Erde beschrieben, ganz im Ernst. Und sie dann als »schwangeren, gasförmigen Alien« bezeichnet, der eine »Abtreibung« braucht.
Noch ein Grund, warum ich Gedichte hasse. Wer sagt schon »Gestirn« statt »Planet«?
»Ihr müsst euch öffnen, euch entblößen«, sagte die Kursleiterin. »Zeigt mir eure dunkle Tiefe!«
Meine dunkle Tiefe? Wer sind Sie? Meine Gynäkologin?
Hannah!
Oft war ich schon drauf und dran zu fragen, wann wir endlich zum Fröhlichen und Heiteren kommen würden. Zur Liebe zum Leben. So hieß der Kurs und deshalb war ich dort.
Letztendlich bin ich nur dreimal da gewesen. Doch etwas ist doch dabei herausgekommen. Etwas Gutes?
Nein.
H... schwer zu sagen.
Es war nämlich noch ein anderer Schüler in unserer Gruppe, dessen Blickwinkel von den älteren Dichtern bewundert wurde. Es war der Redakteur unserer Schülerzeitung.
Ryan Shaver.
Ihr wisst, von wem ich rede. Und du, Herr Redakteur, kannst es sicher kaum erwarten, deinen Namen aus meinem Mund zu hören.
Also gut, Ryan Shaver. Die Wahrheit wird dich befreien.
Das Motto der Schülerzeitung.
Du weißt es bestimmt schon seit einiger Zeit, Ryan. Seit ich das erste Mal meine Gedichte erwähnt habe, wusstest du, dass dieses eine von dir handelte. Du musst es gewusst haben. Und trotzdem hast du sicher gedacht, es wäre keine große Sache. Kein Grund, dich auf diesen Kassetten zu erwähnen.
Das Gedicht aus der Schule... Oh Gott, das stammte von Hannah.
Ich hatte euch doch eine dichte, vielschichtige, emotionale Zusammenballung von Wörtern angekündigt.
Ich schließe die Augen und bedecke sie mit meiner Hand.
Ich beiße die Zähne zusammen, bis meine Kiefer schmerzen, damit ich nicht aufschreie. Oder in Tränen ausbreche. Ich will nicht, dass sie das liest. Ich will nicht hören, wie ihre Stimme dieses Gedicht vorträgt.
Würdet ihr gern das letzte Gedicht hören, das ich geschrieben habe, bevor ich mich für immer von der Lyrik verabschiedet habe?
Nein?
Ist okay. Ihr habt es ja sowieso schon gelesen. An unserer Schule ist es sehr beliebt.
Ich gestatte meinen Lidern und meiner Kiefermuskulatur, sich zu entspannen.
Das Gedicht. Wir haben im Englischunterricht darüber diskutiert. Und es mehrmals laut gelesen.
Und Hannah hat das alles mitgekriegt.
Ihr erinnert euch doch? Vielleicht nicht an jedes Wort, doch ihr wisst, wovon ich rede. Von Ryans halbjährlich erscheinender Schulzeitung »Verloren und Gefunden«, in der er die verschiedensten Gegenstände abbildet, die er auf dem Schulgelände entdeckt hat.
Wie zum Beispiel einen achtlos weggeworfenen Liebesbrief, der niemals seinen Adressaten erreichte. Wenn Ryan ihn fand, dann strich er die Namen aus und scannte ihn ein, um
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