Tote Maedchen luegen nicht
Art Spiel: Wie lange würde es dauern, bis ich endlich mal etwas Negatives über Clay Jensen erfuhr?
Wenn jemand einen solch untadeligen Ruf besitzt, dann gibt
es immer andere, die nur darauf warten, ihn vom Sockel stoßen zu können.
Doch nicht bei Clay.
Erneut blicke ich zu Tony hinüber und diesmal grinst er vor sich hin.
Ich hoffe, ihr nehmt das jetzt nicht zum Anlass, um nach irgendeinem schmutzigen Geheimnis bei ihm zu suchen. Ein oder zwei dunkle Flecken auf seiner Weste müssten sich doch finden lassen, oder?
Ich kenne da so einige.
Halt, wartet. Ich merke gerade, dass ich genau das tue, was ich anderen vorwerfe. Ihn auf ein Podest stelle, nur um ihn später herunterstoßen zu können. Habe ich deswegen darauf gewartet, dass endlich irgendein Makel sichtbar wird, der seinen Ruf ruiniert? Um ihn dann hinauszuposaunen?
Das will ich nicht!
Der Druck, der auf meiner Brust lastete, ist verschwunden. Und als ich plötzlich einen enormen Schwall Luft ausstoße, wird mir klar, dass ich den Atem angehalten hatte.
Ich hoffe, ihr seid nicht enttäuscht. Ich hoffe, ihr hört nicht nur zu, um neues Geschwätz aufzuschnappen. Ich hoffe, dass euch diese Kassetten mehr bedeuten.
Clay, mein Lieber, dein Name gehört nicht auf diese Liste.
Ich lehne meinen Kopf gegen das Fenster und schließe die Augen. Konzentriere mich auf die Kühle der Scheibe. Wenn ich den Worten lausche, mich aber auf die Kälte konzentriere, halte ich es vielleicht aus.
Du gehörst nicht so dazu wie die andern. Es ist wie in dem Lied: Eins von den Dingen ist nicht wie die anderen. Eins von den Dingen gehört nicht dazu.
Und das bist du, Clay. Trotzdem musst du dabei sein,
wenn ich meine Geschichte erzähle. Sonst ist sie nicht vollständig.
»Warum muss ich mir das anhören?«, frage ich. »Warum überspringt sie mich nicht einfach, wenn ich nicht dazugehöre?«
Tony konzentriert sich weiter auf die Straße und wirft nur hin und wieder einen kurzen Blick in den Rückspiegel.
»Es würde mir besser gehen, wenn ich das alles nie gehört hätte«, sage ich.
Tony schüttelt den Kopf. »Nein. Es würde dich verrückt machen, wenn du nicht wüsstest, was sie dazu getrieben hat.«
Während ich durch die Windschutzscheibe starre und die weißen Linien betrachte, die im Scheinwerferlicht aufleuchten, wird mir klar, dass er recht hat.
»Außerdem wollte sie vermutlich, dass du es erfährst«, fügt er hinzu.
Ja, vielleicht, denke ich. Aber warum? »Wo fahren wir hin?«
Er antwortet nicht.
Ja, in meiner Geschichte gibt es einige große Lücken. Teils weil ich nicht wusste, wie ich diese Dinge erzählen sollte. Teils weil ich mich nicht überwinden konnte, sie auszusprechen. Ereignisse, denen ich nicht gewachsen war... und nie gewachsen sein werde. Und wenn ich nicht darüber spreche, kann ich sie vielleicht auch weiterhin auf Distanz halten.
Aber wird die Rolle, die ihr darin spielt, dadurch kleiner? Wird sie weniger bedeutungsvoll, nur weil ich euch nicht alles erzähle?
Nein.
Im Grunde wird sie sogar größer.
Denn ihr habt keine Ahnung, wie mein übriges Leben aussah. Zu Hause. Selbst in der Schule. Ihr alle wisst nur, wie euer eigenes Leben aussieht. Aber wenn ihr euch in das Leben einer anderen Person einmischt, dann betrifft das nicht nur einen bestimmten Aspekt dieses Lebens. Als würde alles andere davon unberührt bleiben. Wenn ihr euch in das Leben einer anderen Person einmischt, dann berührt das ihre gesamte Existenz.
Alles... beeinflusst alles.
Die nächsten Geschichten drehen sich alle um eine ganz bestimmte Nacht.
Die Party.
Unsere Nacht, Clay. Und du weißt, was ich mit »unsere Nacht« meine, denn in all den Jahren, in denen wir gemeinsam zur Schule gegangen sind und im Kino gearbeitet haben, gab es nur eine einzige Nacht, die uns miteinander verbunden hat.
Wirklich verbunden hat.
Viele von euch waren an den Ereignissen dieser Nacht beteiligt, auch manche, deren Namen schon früher erwähnt wurden. Eine chaotische Nacht, die keiner von uns rückgängig machen kann.
Ich hasse diese Nacht. Schon bevor die Kassetten auftauchten, habe ich sie gehasst. In dieser Nacht habe ich einer alten Frau versichert, dass ihr Mann unverletzt und alles in Ordnung sei. Aber das war eine Lüge. Denn während ich zu ihr lief, um sie zu beruhigen, ist der Fahrer des anderen Wagens gestorben.
Und der alte Mann wusste es, als er schließlich nach Hause zurückkehrte.
Wollen wir hoffen, dass wirklich nur diejenigen die Kassetten
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